Hinweise zur Lösung der Abschlussklausur vom 17.7.2007

Werbung
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
Hinweise zur Lösung
der Abschlussklausur vom 17.7.2007
Teil 1:
Die Kündigungsschutzklage hat Erfolg, wenn die Kündigung unwirksam ist und dies vom
Arbeitsgericht noch überprüft werden kann.
I.
Zugang einer schriftlichen Kündigung
1.
Die Kündigung wahrt die Schriftform, §§ 623, 125 BGB.
2.
U selbst hat die Kündigung nicht erklärt, sondern hat sich durch P vertreten lassen,
§ 164 I BGB. Der Ausspruch von Kündigungen unterfällt seiner Vertretungsmacht,
vgl. § 49 I HGB.
3.
Fraglich ist, ob die Kündigung nach § 174 S. 1 BGB unwirksam ist. 1 Hiernach ist ein
einseitiges, von einem Bevollmächtigen vorgenommenes Rechtsgeschäft unwirksam,
wenn dieser keine Vollmachtsurkunde vorlegt und der Vertragspartner deshalb das
Rechtsgeschäft unverzüglich zurückweist. Unverzüglich bedeutet nach § 121 BGB
„ohne schuldhaftes Zögern“. Daran fehlt es hier bereits, denn A hat bei Ausspruch der
Kündigung die fehlende Vollmachtsurkunde nicht beanstandet, dies geschah erst in der
fast zwei Wochen später zugestellten Klageschrift. Das ist auch wenn dem
Arbeitnehmer im Einzelfall eine gewisse Überlegungsfrist einzuräumen sein mag,
nicht mehr unverzüglich.
Im Übrigen ist anerkannt, dass über die Fälle des § 174 S. 2 BGB hinaus eine
Zurückweisung wegen fehlender Vollmachtsurkunde ausscheidet, wenn das Bestehen
einer Vollmacht aus Sicht eines verständigen Empfängers nicht zweifelhaft ist. So
liegt der Fall hier, da ein Prokurist nach § 49 I HGB umfassende Vertretungsmacht
hat. Ist die Prokuraerteilung ordnungsgemäß ins Handelsregister eingetragen (vgl. § 53
1
Da die Voraussetzungen des § 174 S. 1 BGB nicht vorlagen, braucht hier i.E. nicht entschieden zu werden, ob
ein Mangel im Nachweis der Vertretungsmacht bei Versäumnis der Klagefrist (§§ 13 I 2, 4, 7 KSchG) überhaupt
noch geprüft werden kann. Die Antwort auf diese Frage ist für den richtigen Prüfungsstandort des § 174 BGB
von entscheidender Bedeutung: Bejaht man auch für diese Mängel eine Präklusion nach §§ 4, 7 KSchG, wäre
§ 174 BGB erst nach Prüfung (und Bejahung) der Klagefrist zu erörtern; anderenfalls müsste er vor der Prüfung
von §§ 4, 7 KSchG geprüft werden. Beachten Sie auch, dass kein Fall des § 180 BGB vorlag, da P als Prokurist
Vertretungsmacht hat.
1
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
I HGB), kann sich der Arbeitnehmer wegen § 15 II 1 HGB nicht mehr auf § 174 S. 1
BGB berufen.
4.
Die Kündigungserklärung ist deshalb ordnungsgemäß.
Vielfach wurde das vorliegende Problem nicht gesehen oder falsch verankert.
§ 180 BGB betrifft den Fall des Nichtvorliegens von Vertretungsmacht und ist
daher hier nicht einschlägig.
II.
Keine Präklusion nach §§ 13 I 2, 4 S. 1 , 7 KSchG
Eine inhaltliche Überprüfung der Wirksamkeit der Kündigung im Übrigen kommt wegen
§§ 13 I 2, 4 S. 1, 7 KSchG nur in Frage, wenn die Klagefrist von drei Wochen nach Zugang
der Kündigung gewahrt wurde. Die Kündigungsfrist wurde vorliegend durch die am 5.1.2007
erhobene Klage gewahrt. Fristbeginn war nach § 187 I BGB der 25.12.2007 2 , Fristende war
damit nach § 188 II Alt. 1 BGB 3 der 14.1.2008, 24.00 Uhr. Ein Fall der Präklusion liegt daher
nicht vor.
Vielfach wurde der richtige Standort im Prüfungsaufbau von §§ 13 I 2, 4 S. 1, 7
KSchG missachtet. Hier gibt es – außer bei der oben angesprochenen Frage im
Zusammenhang mit § 174 BGB – keine anderen vertretbaren Alternativen!
III.
Kein Sonderkündigungsschutz nach § 91 SGB IX
A ist zwar als Schwerbehinderter i.S.v. § 2 SGB IX anerkannt, so dass sowohl eine
außerordentliche (§ 91 SGB IX) als auch eine ordentliche (§ 85 SGB IX) Kündigung im
Grundsatz einer vorherigen (!) Zustimmung des Integrationsamtes bedürfe. Dies gilt hier aber
nicht, da das Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung 4 noch
keine sechs Monate bestanden hat, vgl. § 90 I Nr. 1 SGB IX. 5
2
Es schadet nicht, dass es sich dabei um einen Feiertag handelt, denn § 193 BGB gilt nur für das Fristende!
Zitieren Sie bei § 188 BGB immer ganz genau!
4
Beachten Sie: Es kommt nur auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung an, nicht dagegen auf
den geplanten Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Diese Unterscheidung ist v.a. bei der
ordentlichen Kündigung zu beachten!
5
Ein weiteres examensrelevantes Problem stellt sich, wenn der Arbeitnehmer den Zugang der
Kündigungserklärung treuwidrig bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist verzögert, um in den Genuß des
Kündigungsschutzes nach § 1 KSchG und §§ 85, 91 SGB IX zu kommen. Vgl. Sie hierzu Fischinger/Bausch, JA
2006, 567 f.
3
2
Prof. Dr. Monika Schlachter
IV.
SS 2007
Vereinbarkeit der Kündigung mit § 626 BGB
Bei der von P für U erklärten Kündigung handelt es sich um eine außerordentliche
Kündigung, die auf den Verdacht einer unzulässigen umfangreichen privaten Internutzung
beruhte.
In sehr vielen Arbeiten wurde schon nicht erkannt, dass es sich um eine
Verdachtskündigung handelte, obschon U ausdrücklich wegen des Verdachts
kündigt. In den wenigen Arbeiten, die die Verdachtskündigung erkannt haben,
erfolgte eine Prüfung der besonderen Voraussetzungen der Verdachtskündigung
nur sehr oberflächlich.
Da der Aufbau der Prüfung einer außerordentlichen Verdachtskündigung sehr
schwierig ist und verschiedene Varianten denkbar sind, wurde an dieser Stelle so
gut wie jeder Aufbau akzeptiert.
1.
Grundsätzliche Zulässigkeit einer Verdachtskündigung
Das BAG erkennt die grundsätzliche Möglichkeit einer Verdachtskündigung – die von einer
auf bewiesene Tatsachen gestützten Kündigung zu unterscheiden ist – in ständiger
Rechtsprechung an. 6 Eine Verdachtskündigung verstößt insb. nicht gegen die in Art. 6 II
EMRK enthaltene Unschuldsvermutung. Denn anderenfalls wäre es für den Arbeitgeber
regelmäßig unmöglich, vor einer strafrechtlichen Verurteilung den Arbeitnehmer zu
kündigen, was dem Arbeitnehmer i.E. eine bezahlte Freistellung bis zum Abschluss des
Strafverfahrens verschaffen würde. 7
2.
Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 II 1 BGB 8
Die Kündigungserklärungsfrist des § 626 II 1 BGB wurde vorliegend unproblematisch
gewahrt. Dabei kommt es nicht einmal darauf an, ob für den Fristbeginn bereits auf den
Zeitpunkt abzustellen ist, in dem der erste Verdacht entsteht, oder ob auf den Zeitpunkt
abzustellen ist, zu dem die Ermittlungen abgeschlossen wurde. Denn selbst wenn man auf den
6
Vgl. BAG NZA 1996, 81, 83.
Bei erfolgter Verdachtskündigung kann der Arbeitgeber aber verpflichtet sein, den Arbeitnehmer
wiedereinzustellen, wenn sich später die Unschuld des Arbeitnehmers herausstellt (vgl. Palandt/Weidenkaff,
BGB, 66. Aufl., § 626, Rn. 49).
8
Prüfen Sie § 626 II BGB grds. vor § 626 I BGB – kein Praktiker (Korrektor auch im 1. Examen!) würde das
Vorliegen eines Kündigungsgrundes prüfen, wenn der Arbeitgeber die Frist des § 626 II BGB versäumte.
7
3
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
14.12.2007 abstellte, wäre die Zweiwochenfrist nicht abgelaufen (Fristbeginn nach § 187 I
BGB am 15.12.2007, 0.00 Uhr, Fristende nach § 187 II BGB mit Ablauf des 28.12.2007).
3.
Prüfung des § 626 I BGB
§ 626 I BGB wird grundsätzlich – wie die verhaltensbedingte Kündigung bei § 1 I KSchG –
zweistufig geprüft. Zu fragen ist zunächst, ob ein an sich zur Kündigung berechtigender
Grund
vorliegt.
Ist
dies
zu
bejahen,
ist
auf
zweiter
Stufe
eine
umfassende
Interessenabwägung vorzunehmen. Bei einer Verdachtskündigung besteht aber insoweit eine
Besonderheit, als hier zunächst die besonderen Voraussetzungen dieser „Kündigungsart“ zu
prüfen und nur inzident die o.g. Anforderungen zu untersuchen sind.
a)
Anforderungen an eine Verdachtskündigung
Eine Verdachtskündigung ist nur möglich, wenn
-
sich aus der Kündigung klar ergibt, dass der Arbeitgeber eine Verdachtskündigung
aussprechen möchte,
-
Tatsachen vorliegen, die die weit überwiegende Wahrscheinlichkeit begründen,
dass der Arbeitnehmer die ihm vorgeworfene Tat begangen hat (begründeter
Verdacht),
-
der Arbeitgeber alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Aufklärung des
Sachverhalts ergriffen hat, insb. den Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung
angehört hat
-
und die Tat – unterstellt, der Arbeitnehmer hat sie tatsächlich begangen – einen
wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung i.S.v. § 626 I BGB darstellt
(dazu sogleich unter b))
Im vorliegenden Falle hat P als Vertreter des U die Kündigung ausdrücklich auf den Verdacht
umfangreicher und ausdrücklich untersagter privater Internetnutzung gestützt. Dieser
Verdacht ist auch ausreichend begründet. Die extensive Internetnutzung geschah praktisch
ausschließlich zu Zeiten, in denen A nach dem Arbeitsplan den PC nutzte. Der Verdacht stützt
sich auch nicht auf einen einmaligen Vorfall, bei dem nicht auszuschließen wäre, dass ein
anderer Arbeitnehmer kurzzeitigen den PC des A nutzte, sondern auf eine langandauernde
Beobachtung. Laut Sachverhalt hat U schließlich alle möglichen Aufklärungsmaßnahmen
unternommen und insbesondere dem A die Gelegenheit gegeben, sich zu dem Verdacht zu
äußern.
4
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
Die besonderen Voraussetzungen der Verdachtskündigung liegen mithin vor. Zu prüfen
bleibt, ob die Tat (extensive private Internetnutzung) – wäre sie tatsächlich bewiesen – einen
Kündigungsgrund i.S.v. § 626 I BGB darstellte.
b)
Inzidentprüfung einer außerordentlichen Kündigung
aa)
Eine derartige private Internutzung müsste zunächst einen wichtigen Grund an sich
darstellen. Nach der neuen Rechtsprechung des BAG kommt es insoweit nicht mehr darauf
an, dass der Arbeitgeber eine private Nutzung des Internets ausdrücklich untersagt hat. Die
private Nutzung des vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Internetanschlusses als solche
stellt bereits einen wichtigen Grund an sich dar, da dem Arbeitgeber zusätzliche Kosten
entstehen, wenn der Arbeitnehmer Betriebsmittel unberechtigter Weise in Anspruch nimmt.
Im übrigen wird der Arbeitgeber auch insoweit geschädigt, als er für tatsächlich nicht
erbrachte Arbeitsleistungen Lohn zahlt.
bb)
Auf zweiter Stufe sind die Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Einzelfall
gegeneinander abzuwägen.
(1) Zu berücksichtigen ist dabei zunächst, das bei Störungen im Vertrauensbereich
grundsätzlich bei steuerbaren Verhalten des Arbeitnehmers zunächst erfolglos eine
Abmahnung ausgesprochen werden muss. Das Abmahnungserfordernis ist letztlich
Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und trägt dem Prognoseprinzip
Rechnung, da eine negative Prognose in der Regel nur gestellt werden kann, wenn
der Arbeitnehmer auf eine vorherige deutliche Warnung nicht reagiert hat. U hat
vorliegend keine Abmahnung ausgesprochen. Daraus folgt jedoch nicht die
Unwirksamkeit
der
Abmahnungserfordernis
Kündigung,
Ausnahmen
denn
es
möglich
ist
sind.
anerkannt,
Dies
ist
dass
von
insbesondere
anzunehmen, wenn es sich um eine schwere Pflichtverletzung handelt, deren
Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar war und bei der eine
Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist. 9 So lag der Fall
hier. U hat ausdrücklich im Arbeitsvertrag eine private Nutzung des Internets
untersagt. Da er über keine „flatrate“ verfügt, entstehen ihm durch jede unberechtigte
Privatnutzung Kosten. Hinzukommt, dass A das Internet in ganz erheblichem
zeitlichen Umfang privat genutzt hat. Er konnte nicht darauf vertrauen, dass U dies
tolerieren würde.
9
BAG NZA 1990, 433.
5
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
Sehr viele Bearbeiter nahmen vorliegend die Unwirksamkeit der Kündigung
wegen des Fehlens einer Abmahnung an. Das war bei vorliegendem Sachverhalt
nur schwer vertretbar. Konsequent wurden dann vielfach eine Umdeutung und
eine ordentliche Kündigung geprüft, wobei hier zu viel Zeit vertan wurde, indem
letztlich genau das gleiche nochmals geprüft wurde. Unbedingt zu beachten war
in diesem Fall, dass das KSchG gar nicht anwendbar war!
(2) Auch im übrigen ist die Kündigung unter Abwägung der widerstreitenden Interessen
nicht unverhältnismäßig. Zu Gunsten des A spricht lediglich, dass er nur
„unverfängliche“ Seiten aufgesucht hat. 10 Zu Lasten des A spricht dagegen, dass es
sich um ein relativ kurzes Arbeitsverhältnis handelt, das gerade nicht über einen
längeren Zeitraum beanstandungsfrei durchgeführt wurde. Auch war die private
Internetnutzung (2-3 Stunden täglich) ganz erheblich und betrug circa 30 % der
gesamten Arbeitszeit des A. U hat daher eine großen Teil des Lohnes „umsonst“
gezahlt.
d)
Zwischenergebnis
Ein wichtiger Grund i.S.v. § 626 I BGB liegt daher vor. Die Kündigung verstößt mithin nicht
gegen § 626 BGB.
V.
Keine Unwirksamkeit nach § 242 BGB
Die Kündigung dürfte schließlich nicht nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) unwirksam sein.
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch eine nach allgemeinen arbeitsrechtlichen
Regeln wirksame Kündigung ganz ausnahmsweise wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben
unwirksam sein kann. 11 Das kann der Fall sein, wenn die Kündigung zur Unzeit
ausgesprochen wird. Das BAG ist in solchen Fällen aber zu Recht äußerst streng.12
Richtigerweise begründet trotz der damit verbundenen Belastung für den gekündigten
Arbeitnehmer allein die Tatsache, dass die Kündigung an Weihnachten ausgesprochen wurde,
keinen Verstoß gegen Treu und Glauben. Das muss hier umso mehr gelten, als U hier ein
schützenswertes Interesse daran hatte, den A zeitnah zu kündigen. Denn anderenfalls wäre die
Kündigungserklärungsfrist des § 626 II BGB verstrichen. Hinzu kommt, dass A mit Ablauf
10
Besonders streng ist das BAG bei Aufrufen und downloaden von pornographischen Seiten (vgl. BAG NZA
2006, 98, 99; NZA 2006, 977, 978; NZA 2006, 980, 983 f.
11
Vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 66. Aufl. 2007, § 242, Rn. 61 ff. m.w.N.
12
Das BAG sah in einem Fall einen Verstoß gegen § 242 BGB, in dem die Kündigung anlässlich der
Beerdigung des Lebenspartners ausgesprochen wurde.
6
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
des 31.12.2007 in den Genuss des Sonderkündigungsschutzes nach § 91 SGB IX gekommen
wäre, so dass die Kündigung zustimmungsbedürftig geworden wäre.
Die Kündigung zur Unzeit wurde nur von wenigen Bearbeitern erkannt, wobei es
sich hier um ein Standardproblem handelt. Viele Bearbeiter, die das Problem
erkannten, haben es nicht juristisch umsetzen können, d.h. nicht erklärt, wo hier
das juristische Problem (§ 242 BGB) liegt.
VI.
Ergebnis
Die Kündigung ist wirksam. Die Klage ist demzufolge unbegründet.
Teil 2 Grundfall:
C hat weiterhin einen Anspruch aus § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag auf die
übertarifliche Lohnzulage i.H.v. 450 €, wenn im Arbeitsvertrag vom 7.3.2003 eine
entsprechende rechtliche Verpflichtung des U begründet wurde und der von U erklärte
Widerruf unwirksam ist. 13
I.
Auslegung des Arbeitsvertrages – Abgrenzung zum Freiwilligkeitsvorbehalt
Fraglich ist zunächst, ob es sich bei der übertariflichen Lohnzusage um eine rein freiwillige
Arbeitgeberleistung ohne Rechtspflicht oder um einen Vergütungsbestandteil handelt, zu
dessen Zahlung der U rechtlich verpflichtet ist. Denn bei einer rein freiwilligen Leistung ohne
Rechtspflicht könnte U die Zahlung u.U. jederzeit einstellen (Freiwilligkeitsvorbehalt). 14 Aus
Sicht eines objektiven Empfängers (§§ 133, 157 BGB) kann die Vertragsabrede über die
Lohnhöhe nur so verstanden werden, dass U sich rechtsverbindlich zur Zahlung auch der
450 € verpflichten wollte. Denn angesichts der eminenten Bedeutung der Lohnhöhe für den
Arbeitnehmer hätte ein andersartiger Wille des U deutlich aus dem Vertragstext folgen
13
Eine einvernehmliche Änderung des Arbeitsvertrages scheidet aufgrund der fehlenden Bereitschaft des C aus.
Ein derartiger Freiwilligkeitsvorbehalt wurde vor der Schuldrechtsreform angesichts der Bereichsausnahme in
§ 23 I AGBG (s.u.) für unproblematisch gehalten. Ob ein Freiwilligkeitsvorbehalt auch in nach dem 1.1.2002
geschlossenen Arbeitsverträgen noch möglich ist, hat das BAG – im Gegensatz zur Zulässigkeit von
Widerrufsvorbehalten – noch nicht entschieden.
14
7
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
müssen. Dies ist nicht der Fall. Überdies zeigt der Widerrufsvorbehalt, dass U selbst von einer
grundsätzlichen Bindung ausging.
II.
Unwirksamkeit des Widerrufs
Der Anspruch des C könnte daher nur für die Zukunft entfallen, wenn der von U erklärte
Widerruf wirksam ist. Nach dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ ist eine einseitige
Änderung des Arbeitsvertrages durch eine Partei grundsätzlich nicht möglich. Etwas anderes
gilt nur, wenn im Arbeitsvertrag ein wirksamer Widerrufsvorbehalt vereinbart wurde und die
Ausübung des Widerrufs im konkreten Einzelfall wirksam ist.
1.
Wirksamkeit des § 6 Arbeitsvertrag
§ 6 Arbeitsvertrag enthält einen sog. Änderungs- oder Widerrufsvorbehalt. Er soll es dem U
erlauben, jederzeit unbeschränkt diejenigen Lohnbestandteile zu widerrufen, die über den
Tariflohn hinausgehen.
a)
Kein Verstoß gegen § 4 I, III TVG
Die Regelung verstößt vorliegend nicht gegen § 4 I TVG. Zwar gilt der zwischen U und G
geschlossene Tarifvertrag aufgrund der Mitgliedschaft des C in der G (§ 3 I TVG) zwingend
und mit normativer Wirkung, § 4 I TVG, zwischen C und U, so dass im Arbeitsvertrag nicht
zu Lasten des Arbeitnehmers vom Tarifvertrag abgewichen werden kann. Soweit
übertarifliche Lohnbestandteile im Arbeitsvertrag geregelt werden, liegt aber gerade eine
Abweichung zugunsten des Arbeitnehmers vor. Auch die Widerrufsmöglichkeit, die als
solche für den Arbeitnehmer zweifellos nachteilig ist, stellt ihn aber nicht ungünstiger als er
nach dem Tarifvertrag stünde, wenn – wie hier – der vorbehaltene Widerruf nur die
übertariflichen Lohnbestandteile erfasst.
Hier waren eigentlich keine Ausführungen veranlasst. Die obigen Ausführungen
dienen nur der Vollständigkeit, wurden in der Klausur jedoch nicht erwartet.
Keinesfalls lag hier der Schwerpunkt der Frage 2.
8
Prof. Dr. Monika Schlachter
b)
SS 2007
Verstoß gegen § 308 Nr. 4 BGB
Der Widerrufsvorbehalt könnte aber gegen § 308 Nr. 4 BGB verstoßen. Voraussetzung ist,
dass es sich um eine AGB handelt und der Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle eröffnet
ist.
(1)
Seit der Schuldrechtsmodernisierung unterliegen auch Arbeitsverträge der AGBKontrolle, zu beachten ist allein § 310 IV BGB. 15 Das „neue“ Recht ist auch
unproblematisch anwendbar, da der Arbeitsvertrag mit C nach dem 1.1.2002
geschlossen wurde.
(2)
U verwendet den Arbeitsvertrag standardgemäß, vorformulierte Vertragsbedingungen
i.S.v. § 305 I BGB liegen daher vor. 16
(3)
Die Klauselkontrolle ist auch nicht nach § 307 III BGB ausgeschlossen, denn bei der
Widerrufsregelung handelt es sich weder um eine bloße Wiederholung des
Gesetzestextes noch um eine „Preisregelung“17 .
(4)
Ein Klauselverbot nach § 309 BGB ist nicht einschlägig. 18
(5)
Nach § 308 Nr. 4 BGB ist eine formularmäßige Abrede unzulässig, die dem
Verwender das Recht geben soll, die von ihm versprochene Leistung zu ändern, wenn
nicht die Vereinbarung der Änderung unter Berücksichtigung der Interessen des
Verwenders für den anderen Vertragsteils zumutbar ist. Bei der Klauselkontrolle nach
§ 308 BGB ist im konkreten Fall zweierlei zu beachten: Nach § 308 Nr. 4 BGB ist die
Vereinbarung eines Widerrufsvorbehalts nicht schlechthin unwirksam, da es sich bei
den in § 308 BGB normierten Klauselvorbehalten anders als bei denen des § 309 BGB
um solche mit Wertungsmöglichkeit handelt.
Hinzu kommt, dass bei der
Klauselkontrolle von Arbeitsverträgen nach § 310 IV 2 BGB die „im Arbeitsrecht
geltenden Besonderheiten“ zu berücksichtigen sind. Nach zutreffender Auffassung des
BAG 19 folgt daraus, dass ein Widerrufsvorbehalt nicht stets unzulässig ist. Ein solches
Widerrufsrecht sei zumutbar, wenn der Widerruf nicht grundlos erfolgen soll, sondern
unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und einer gebotenen
Interessenabwägung wegen der unsicheren Entwicklung der Verhältnisse als
15
Vor dem 1.1.2002 galt dagegen die Bereichsausnahme des § 23 I AGBG.
Im Übrigen ist der Arbeitnehmer als solcher nach der Rechtsprechung des BAG Verbraucher i.S.v. § 13 BGB
(BAG NJW 2005, 3305). Konsequenz im Hinblick auf die AGB-Kontrolle ist, dass auch dann, wenn der
Arbeitgeber den konkreten Vertragstext nur einmalig verwenden will, die §§ 307 ff. BGB nach § 310 III Nr. 2
BGB anwendbar sein können.
17
Eine Kontrolle des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung (d.h. des vom Arbeitgeber gezahlten
„Preises“ der vom Arbeitnehmer erbrachten Arbeitsleistung) nach den §§ 307 ff. BGB verbietet sich in einer
marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung.
18
Beachten Sie bei der Klauselkontrolle stets die korrekte Prüfungsreihenfolge: § 309 - § 308 - § 307 BGB!
19
Vgl. JA 2005, 488 ff. m. Anm. Fischinger.
16
9
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
Instrument der Anpassung notwendig sei. Der AG habe ein anerkennenswertes
Interesse daran, bestimmte Leistungen flexibel auszugestalten. Andererseits gehe es
aber auch nicht an, das Wirtschaftsrisiko auf den Arbeitnehmer zu verlagern.
Konkret stellt das BAG deshalb materielle und formelle Anforderungen für die
Wirksamkeit eines Widerrufsvorbehalts auf:
-
Materiell kann ein Widerrufsvorbehalt nur wirksam sein, wenn der widerrufliche
Anteil am Gesamtverdienst max. 25 bis 30 % beträgt und der Tariflohn nicht
unterschritten wird.
-
Formell muss die Klausel wegen § 307 I 2 BGB klar und verständlich sein.
Erforderlich ist insbesondere, dass sich aus der Regelung selbst ergeben muss, dass
der Widerruf nicht ohne Grund erfolgen darf. Voraussetzungen und Umfang der
vorbehaltenen Änderungen müssen möglichst konkretisiert werden und es muss
erkennbar sein, aus welchen Gründen ein Widerruf (wirtschaftliche Gründe,
Leistung oder Verhalten des AN) in Betracht kommt. Soweit möglich, ist auch der
Grad der Störung (zB wirtschaftliche Notlage des Unternehmens, nicht
ausreichender
schwerwiegende
Gewinn,
Rückgang
Pflichtverletzung,
der
wirtschaftlichen
unterdurchschnittliche
Entwicklung,
Arbeitsleistung)
anzugeben.
(6)
Den vom BAG aufgestellten materiellen Anforderungen wird der Widerrufsvorbehalt
hier letztlich gerecht. Weder wird der Tariflohn unterschritten, noch übersteigt der
widerrufliche Teil mehr als 25 %. Jedoch genügt der Widerrufsvorbehalt nicht den
formellen Anforderungen. Es fehlt jegliche Angabe darüber, aus welchem Grund ein
Widerruf in Betracht kommen soll. Auch der Grad der Störung ist nicht angegeben.
(7)
Der Widerrufsvorbehalt ist daher nicht wirksam. U konnte seinen Widerruf daher nicht
auf die Klausel stützen. Der erklärte Widerruf ist daher unwirksam. Auf eine
Ausübungskontrolle kommt es folglich gar nicht mehr an.
Derart detaillierte Kenntnisse – wie die 25%-Grenze – bei der Prüfung des § 308
Nr. 4 BGB wurden nicht erwartet. Erwartet wurde aber eine konsistente Prüfung
des AGB-Rechts und ein Eingehen auf § 308 Nr. 4 BGB.
10
Prof. Dr. Monika Schlachter
2.
SS 2007
Ergebnis
Da der erklärte Widerruf unwirksam ist, steht C nach wie vor ein Anspruch auf die 450 €
zu. 20
Teil 2 – Zusatzfrage:
I.
Wirksamkeit des Widerrufsvorbehalts
Im Grundsatz gilt hier zunächst das zu Frage 1 Gesagte entsprechend. Insbesondere ist auch
auf den Arbeitsvertrag der C seit dem 1.1.2003 das „neue“ Schuldrecht anwendbar, obwohl
der Vertrag vor dem 1.1.2002 vereinbart wurde, vgl. Art 229 § 5 EGBGB. 21 Unter
Zugrundelegung des oben Ausgeführten ist die Klausel deshalb unwirksam.
II.
Ergänzende Vertragsauslegung
Problematisch ist jedoch, dass zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses am 20.6.2000 das
Klauselverbot des § 308 Nr. 4 BGB (bzw. seine Vorgängernorm § 8 Nr. 3 AGBG) im
Bereich des Arbeitsrechts noch gar nicht galt (§ 23 I AGBG) und folglich ein entsprechendes
Verbot für den Arbeitgeber gar nicht bestand. Zu Recht hat das BAG in der zugrunde
liegenden Entscheidung deshalb betont, dass für „Altverträge“ die unreflektierte Anwendung
der §§ 305 ff BGB auf derartige Verträge einen Fall der echten Rückwirkung darstelle:
„Eine Bindung des AG an die vereinbarte Leistung ohne Widerrufsmöglichkeit würde
unverhältnismäßig in die Privatautonomie eingreifen. Mit einer solchen Rechtsfolge
konnte, musste und durfte niemand rechnen. Sie würde keine angemessene, den
typischen Interessen der Vertragspartner Rechnung tragende Lösung bieten“
Das BAG lässt deshalb die nach neuem Recht unwirksame Klausel nicht nicht ersatzlos gem.
§ 306
II
BGB
entfallen,
sondern
betont
die
Möglichkeit
einer
ergänzenden
20
Im Grundsatz zu überlegen wäre noch, ob U die gewünschte Vertragsänderung im Wege der
Änderungskündigung erreichen könnte. Das dürfte nicht der Fall sein, da die Rechtsprechung sehr strenge – hier
kaum gegebene – Anforderungen an die Änderungskündigung zur Lohnsenkung stellt (Nachweise). Jedenfalls
schied eine wirksame Änderungskündigung hier schon angesichts der mangelnden Schriftform (§ 623 BGB)
aus.
21
Mit den Übergangsvorschriften zum neuen Schuldrecht (insb. Art. 229 §§ 5, 6 EGBGB) müssen Sie sich – so
Sie ein ordentliches Examen anstreben – im Rahmen Ihrer Examensvorbereitung einmal zumindest
überblicksartig vertraut machen.
11
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
Vertragsauslegung. 22 Zu fragen sei, was die Parteien vereinbart hätten, wenn sie um die
Unwirksamkeit der Widerrufsklausel gewusst hätten. Dabei ist davon auszugehen, dass die
Parteien zumindest eine Widerrufsmöglichkeit bei (erheblichen) wirtschaftlichen Verlusten
vorgesehen hätten. Diese wäre dem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung von Treu und
Glauben auch zumutbar gewesen, so dass er dieser redlicherweise nicht widersprochen hätte.
Daher ist hier im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ein Widerrufsvorbehalt für den
Fall erheblicher wirtschaftlicher Verluste des Arbeitgebers anzunehmen.
III.
Ausübungskontrolle
Die Ausübung des Widerrufsrechts muss darüber hinaus aber auch einer Inhaltskontrolle im
konkreten Einzelfall standhalten. Diese richtet sich nicht nach den §§ 305 ff. BGB (es geht ja
nicht um Vertragsbedingungen), sondern nach § 315 BGB. Erforderlich ist demnach
zunächst, dass der im Widerrufsvorbehalt genannte Grund überhaupt vorliegt. Das war hier
der Fall, da U sich in erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet und sogar eine
Zahlungsunfähigkeit in naher Zukunft nicht auszuschließen ist. Ein sachlicher Grund für den
Widerruf liegt daher vor. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der von
U erklärte Widerruf unbillig ist, insbesondere hat U den Widerruf gegenüber allen
Arbeitnehmern erklärt, ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz liegt nicht vor.
Denn dass im Ergebnis den nach dem 1.1.2002 eingetretenen Arbeitnehmern der
übertarifliche Lohnanspruch erhalten bleibt, die vor dem 1.1.2002 eingestellten Arbeitnehmer
diesen aber verlieren, ist das konsequente Resultat der unterschiedlichen Rechtslage zum
jeweiligen Einstellungstermin.
IV.
Ergebnis
Der von U erklärte Widerruf ist wirksam, die C hat daher keinen Anspruch mehr auf die
übertarifliche Lohnzulage.
22
Wichtig ist, dass dem das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion (BGHZ 86, 284, 297; 114, 338, 342 f;
Palandt-Heinrichs 66. Aufl, vor § 307, Rn 8) nicht entgegensteht. Denn Wesen der geltungserhaltenden
Reduktion ist es, dass eine an sich unzulässige Regelung in AGB durch das Gericht auf das gerade noch
zulässige Maß reduziert wird. Dies ist unzulässig, da ansonsten die Verwendung von gegen die §§ 307 ff BGB
verstoßenden AGB für den Verwender risikolos wäre: nimmt der Vertragspartner die (unzulässigen)
Bestimmungen hin, ist der Verwender im Vorteil; geht der Vertragspartner aber gegen die AGB gerichtlich vor
und reduziert das Gericht sie entsprechend, hat der Verwender nichts verloren. Im vorliegenden Falle dagegen
konnte der Arbeitgeber als Verwender der AGB zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nichts von der (später)
angeordneten gesetzlichen Unwirksamkeit wissen, ein entsprechender Vorwurf ist ihm deshalb nicht zu machen.
12
Prof. Dr. Monika Schlachter
SS 2007
Hinweise zur Gewichtung:
Teil 1 zählte ca. 65 %
Teil 2 Grundfall zählte ca. 30 %
Teil 2 Zusatzfrage zählte ca. 5 %
Hinweise der Korrektoren:
Teil 1:
-
Kein korrekter Prüfungsaufbau (Kündigungserklärung vor §§ 4, 7 KSchG, diese
vor dem Rest).
-
Kein Erkennen der Probleme des § 174 BGB, § 91 SGB IX und § 242 BGB.
Wurden diese Probleme erkannt, erfolgte oftmals eine viel zu ausführliche
Prüfung, was zu Auslassungen später führte.
-
Keine saubere Herausarbeitung der Besonderheiten und Voraussetzungen der
Verdachtskündigung.
-
Ungenaues Zitieren.
-
Mitunter mangelhafte Rechtschreibung und Grammatik.
-
Oberflächliche Prüfung der Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB bzw. der
Teil 2:
Einbeziehungskontrolle.
-
Keine Prüfung von § 308 Nr. 4 BGB.
13
Herunterladen