sche Perspektiven (2003), S. 112

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In: Widerspruch Nr. 39 Kritik der Globalisierung - außereuropäische Perspektiven (2003), S. 112-132
Neuerscheinungen
Besprechungen
Neuerscheinungen
Pierre Bourdieu
Meditationen. Zur Kritik der
scholastischen Vernunft
Aus dem Französischen von Achim
Russer unter Mitwirkung von Hélène Albagnac und Bernd Schwibs,
Frankfurt/Main 2001 (Suhrkamp),
geb., 335 S, 19.50 EUR.
Ein soziologischer Selbstversuch
Aus dem Französischen von Stefan
Egger; Nachwort von Franz
Schultheis, Frankfurt/Main 2002
(Suhrkamp), kart., 151 S., 8.50 EUR.
Die Meditationen (Méditations pascaliennes, Paris 1997) behandeln Fragen, die der Autor Pierre Bourdieu
(1.8.1930-23.1.2002) „lieber der Philosophie überlassen hätte“, deren
Vertreterschaft im „akademischen
Feld“ sich jedoch en gros weigere,
konsequent beschreibend und reflektierend auf die sozialen Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Theorieproduktion(en) Bezug
zu nehmen. Anknüpfend an seine
umfangreichen Feldstudien „Die
feinen Unterschiede“ und „Homo
academicus“ sollen die „Meditatio-
nen“ eine „Kritik (im Kantschen
Sinne) der gelehrten Vernunft bis zu
einem Punkt treiben, der gewöhnlich unberührt bleibt“.
Der Soziologe Bourdieu fordert den
Verzicht „auf die Illusion, dass das
Bewusstsein sich selbst durchschaut, und auf die unter Philosophen gängige Vorstellung von Reflexivität“. „Scholastisch“ nennt er –
durchaus die Epoche der Scholastik
einbeziehend, aber nicht nur diese –
eine „doxa“ der Voraussetzungslosigkeit, der Entbindung des eigenen,
akademischen Feldes von anderen
sozialen Feldern, die allererst möglich werde durch eine privilegierte
Situation der „scholé“ (Muße), einer
bestimmten Freiheit von ökonomischen Zwängen, die als Möglichkeitsbedingung der Illusion eines
„reinen Denkens“ aufzufassen sei.
„Die spezifische Logik des Feldes“,
so Bourdieu, „nimmt als spezifischer Habitus Gestalt an“ und zwar
„in einem gewöhnlich als (‚philosophischer’, ‚literarischer’, ‚künstlerischer’ usw.) ‚Geist’ oder ‚Sinn’ bezeichneten Sinn für das Spiel, der
praktisch niemals artikuliert oder
vorgeschrieben wird“. Bourdieu e-
Neuerscheinungen
xemplifiziert dies vor allem am Betrieb der „Königsdisziplin“ Philosophie an der Pariser École Normale
Supérieure, rückblickend auf das eigene Philosophiestudium an dieser
Hochschule. Als den „scholastischen Point d’honneur“ sieht er eine ausdrückliche Geringschätzung
der Sozialwissenschaften, die letztlich Heidegger mit zu einem Garanten „der Würde des philosophischen Metiers“ erhoben habe.
Bourdieu lehnt sich zwar an J.L.
Austins Ausführungen über einen
„scholastic view“ an (Sense and
Sensibilia), einer „Haltung des ‚Als
ob’, dem Spiel der Kinder und ihrem ‚Tun als ob’ verwandt“. Und er
sieht vor allem in Wittgensteins
Werk die „Zerstörung jener Illusionen, die die philosophische Tradition produziert und reproduziert“.
Verschiedene Gründe legten jedoch
nahe, die „Meditationen“ unter das
Vorzeichen Blaise Pascals und seiner „Pensées“ zu stellen. Denn es
komme darauf an, nicht nur die
Grenzen des Denkens und der
Macht des Denkens zu reflektieren,
sondern auch die Voraussetzungen,
die dazu veranlassen, „die zwangsläufig partiellen, geographisch wie
sozial begrenzten“ Erfahrungen
scheinbar transzendieren zu können. Pascals „Abweisung des Anspruchs, letztgültige Grundlagen zu
formulieren“, und dessen Überzeugung, „dass die wahre Philosophie
über die Philosophie spottet“, aber
unterschlage nicht die eigene Einbindung in einen religiösen Glauben
und in theologische Dispositionen.
In Analogie dazu unterzieht Bourdieu seine Soziologie des Philosophiebetriebes ihrerseits einer sozio-
logischen Untersuchung (Ein soziologischer Selbstversuch).
In den „Meditationen“ hebt Bourdieu „drei Formen des scholastischen Irrtums“ hervor: einen „Epistemozentrismus“, einen „moralistischen Universalismus“ und
einen „ästhetischen Universalismus“, die sich allesamt einer subtilen Ignoranz gegenüber den jeweiligen sozialen Bedingungen des Zuganges zu bestimmten symbolischen
Formen und Praktiken verdankten.
Zum zweitgenannten „Irrtum“
schreibt Bourdieu: „Allen, jedoch
rein formal die Zugehörigkeit zur
‚Menschheit’ zusprechen heißt, unter humanistischem Mäntelchen alle
davon auszuschließen, denen die
Mittel entzogen sind, diese Zugehörigkeit wahrzunehmen“. Er bezieht
diese Kritik exemplarisch auf Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, auf das Modell einer „kommunikativen Vernunft“,
dem er vorhält, „die Politik unversehens auf das Terrain der Ethik“
zurückzuholen. Mit dem universalistischen Ideal eines „vernünftigen
Konsens“, dem Ideal einer Macht
der Argumente, seien die Argumente der Macht ignoriert und damit die
sozialen Bedingungen, überhaupt
Argumente geltend machen zu können. Für Bourdieu verfügen Angehörige verschiedener sozialer Felder
weniger über ein gemeinsames Ausdrucksrepertoire als dass die sozialen Felder das Wie von Expressionen prägen. Die Kritik legt dar, dass
Habermas’ „scholastische Schranke“ eine konsequente Eigenbezüglichkeit verhindert, und dies um den
Preis einer Universalisierung des
„eigenen Falls“.
Neuerscheinungen
So wird auf eine „doppelte Wahrheit“ verwiesen, die den Soziologen
nicht übersehen lassen sollte, „dass
die Mühe um die Verdrängung und
ihre mehr oder weniger phantasmatischen Ergebnisse ebenso zur
Wahrheit gehören wie das, was sie
zu tarnen versuchen“. Dies pointiert
eine Zirkularität, der Bourdieu
konsequent nachzugehen versucht.
Mit
ihr
sieht
er
einen
„Freiheitsspielraum“
verbunden,
Idealen einer „Koinzidenz zwischen
objektiven
Tendenzen
und
persönlichen
Erwartungen“
entgegentreten zu können und
damit der Illusion, die Welt sei „eine
lückenlose Verkettung bestätigter
Antizipationen“. Bourdieu verweist
auf Kafkas Josef K. und das
paradoxale „Wahrheitsspiel“ im
„Prozess“, einen „Standpunkt oberhalb der Standpunkte zu finden“.
Nichts sei „grausamer verteilt als
das symbolische Kapital, das heißt
die soziale Bedeutung und die LeVor allem von Seiten einer journabensberechtigung“.
listisch disponierten Kritik in Frankreich ist dem „Häretiker“ Bourdieu
vorgeworfen worden, mit seiner Etikettierung ‚der’ Philosophie grob
verallgemeinernd und aggressiv zu
verfahren. Andererseits gibt es Zuweisungen zu Bourdieus Schriften
wie ‚Soziologie der Philosophie’,
‚negative Philosophie’ und ‚Philosophie mit den Mitteln einer empirischen Soziologie’. All dies besagt
wenig über Bourdieus (soziologische) Objektivierung von Subjektivierungen und die Bemühungen um
eine Objektivierung einer Subjektivität jener programmatischen Objektivierung selber.
In Ein soziologischer Selbstversuch geht
es ausdrücklich um die besagte
„Objektivierung des Subjekts der
Objektivierung, des analysierenden
Subjekts, kurzum: des Forschers
selbst“. Der Text basiert auf dem
letzten Teil der letzten Vorlesung
am Pariser „Collège de France“ (28.
März 2001). Der Titel der Vorlesungsreihe lautete: „Science de la
science“, der des letzten Teils: „Esquisse pour une autoanalyse“. Die
Texte wurden 2001 in Bourdieus eigenem Verlag in Paris veröffentlicht. Nach Bourdieus Verfügung
sollte eine kürzere Fassung zuerst in
der deutschsprachigen Übersetzung
bei Suhrkamp erscheinen, dort für
das Frühjahr 2002 unter dem Titel
„Pierre Bourdieu über Pierre Bourdieu“ angekündigt. Nach seinem
Tod im Januar 2002 wurde die französische Kurzfassung dann widerrechtlich im „Nouvel Observateur“
veröffentlicht, versehen mit Fehldatierungen der Entstehung und Verfälschungen, die suggerieren, Bourdieu habe den Text, dessen Entwürfe auf das Jahr 2000 zurückgehen,
kurz vor seinem Tod geschrieben.
Im Nachwort der jetzigen Suhrkampveröffentlichung der längeren
Textfassung werden diese Vorgänge
ausführlich vorgestellt und kommentiert.
Diesem Selbstversuch legt Bourdieu
die Verpflichtung zugrunde, „alle
Merkmale zu berücksichtigen, die
aus der Sicht des Soziologen erheblich, das heißt für eine soziologische
Erklärung..., und nur dafür notwendig sind“. In dieser „Antiautobiographie“ schreibt er über die Diskrepanzen zwischen seiner Herkunft und den Perspektiven, die
eine Aufnahme in die „École Normale Supérieure“ in Aussicht stellte.
Vor allem aber seien es die Erleb-
Neuerscheinungen
nisse in Algerien, die Zeit des Militärdienstes während des Algerienkrieges und die der frühen Feldforschungen in der Kabylei gewesen,
die eine „Konversion“ des Philosophen zum Ethnologen und Soziologen bewirkt hätten.
Dabei betont er einen „gespaltenen
Habitus“ in der Bearbeitung von
„Gegensätzen“, die zu einem „eigenen
Stil“
der
empirischsoziologischen Forschung geführt
hätten. So scheint der Zirkel einer
Objektivierung der kontingenten
Dispositionen des Forschers geschlossen. Angesichts des Anspruchs auf „Selbstreflexivität“ ist
Bourdieus „Wissenschaft der Wissenschaft“ (Science de la science)
jedoch schwerlich in einer Polarisierung von Soziologie und Philosophie unterzubringen, zumal dem die
interdisziplinären Überschneidungen im französischen Hochschulsystem entgegenstehen.
Es ist nicht überraschend, dass eine
längere Textpassage auf „Ähnlichkeiten“ mit den Arbeiten Foucaults
und deren Verhältnisbestimmungen
von Macht- und Diskurspraktiken
Bezug nimmt. Bourdieu schreibt
über Verwandtschaften „im Bereich
der Forschungen ebenso wie im
Hinblick auf die Art des, im weiteren Sinne, politischen Handelns“.
Ungeachtet einer „großen Nähe“
und „Solidarität“ blieb Foucault für
Bourdieu – wie groß die Distanz innerhalb der akademischen Institution sein mochte – doch stets im philosophischen Feld gegenwärtig. Er
grenzt seine eher „kollektiven Unternehmen“ gegenüber Foucaults
„einsamer“ Arbeit ab, „die den Erwartungen der künstlerischen und
literarischen Welt“ sehr viel mehr
entgegengekommen sei.
Aufschlussreich hinsichtlich der Position einer „Selbstreflexivität“ dürfte ein Vergleich mit Luhmanns systemtheoretischer Soziologie sein,
vor allem mit der „Wissenschaft der
Gesellschaft“ (1992). Die hier tragende Konstruktion einer Beobachtung der gesellschaftlich eingebundenen Beobachtung und Beschreibung setzt auf die stufenweise
Erzeugung von Unterscheidungen
von Unterscheidungshinsichten, die
so als die ‚eigenen’ entparadoxiert
werden sollen mit dem Ziel einer
„Komplexitätsreduktion“. Demgegenüber besteht Bourdieu auf einer
„Implizierung“ des Forschers selber, der habituell und von den Dispositionen her in den „sozialen
Raum“ eingebunden sei.
Ignaz Knips
Jonathan Crary
Aufmerksamkeit. Wahrnehmung
und moderne Kultur
Deutsch von Heinz Jatho, Frankfurt
am Main 2002 (Suhrkamp), geb.,
400 S., 39,90 EUR.
Der amerikanische Kunsttheoretiker
Jonathan Crary hat mit seiner Arbeit
über “Aufmerksamkeit” das zweite
Buch in Deutschland veröffentlicht.
Der Untertitel darf als Programm
gelten: “Wahrnehmung und Kultur”
soll eine Geschichte der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert sein. Die
Aufmerksamkeit erweist sich in dieser Geschichte der Wahrnehmung
als besondere Bedingung der Subjektivität der Moderne. Mit den Anforderungen des Arbeitprozesses,
Neuerscheinungen
der Instrumentalisierung des Menschen und den physiologischen Erkenntnissen entstehen normative
Subjektivitätsmodelle, die auch in
der Wahrnehmung deutliche Spuren
hinterlassen.
Crary stellt die Maler Édouard Manet, Georges Seurat und Paul Cezanne jeweils in den Mittelpunkt der
Diskurse um die Wahrnehmung.
Bilder, wie “Im Wintergarten”, “Parade de cirque” und “Kiefern und
Felsen” bieten reiche Belegstellen
für die Interpretation der Wahrnehmung, die zwischen 1810 und
1840 einen tiefgreifenden Bruch erfahren hat.
Mit dem Ausgangsmaterial der Gesamtkultur gerät das künstlerische
Subjekt als Betrachter nun unter eine Vielzahl von Einflussmöglichkeiten, die selbst den Rahmen des Hyperkomplexen zu sprengen drohen.
Die Photographie bei Edward
Muybridge, die Philosophie Henry
Bergsons in “Materie und Gedächtnis” oder Ernst Machs Theorie der
Empfindungen liefern - um nur einen kleinen Ausschnitt zu nennen das breite Sortiment für die Bildinterpretation. Auf der physiologischen Seite finden die Theorien von
Hermann Helmholtz, Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt und
Charles Scott Sherrington Berücksichtigung. Die klassische Vorstellung von Wahrnehmung wurde auf
physiologischer Seite einer gründlichen Revision unterzogen, was auch
in den Bildern der genannten Maler
Reaktionen hervorruft. Der Kern
der Argumentation zielt auf die
Auflösung der Objektivität der Sinne, die in einem zerstreuten Betrachter gipfelt. Letzteres provoziert
auf psychophysischer Seite die
Konzentration auf Aufmerksamkeit.
Die Bilder zeigen so unterschiedlich
genutzte Freiräume, aber eben keine
beliebigen Spielräume der Wahrnehmung. Gemessen an herkömmlicher Bildlichkeit demonstriert beispielsweise Cezanne durch seinen
Entwurf, was bereits Tatsache ist:
Der Wahrnehmungsraum entspricht
nicht mehr den alten Sehgewohnheiten. Cezanne verfolgt nach Crary
daher konsequent die Strategie einer
Bilddestabilisierung, die bereits die
Vorstufe jener dynamisierten Wahrnehmung erfasst, mit der sich das
maschinengestützte Sehen des Kinos entfalten kann.
Wenn die Arbeit hochgradig nichtlinear erscheint, und wiederholt die
Züge
einer
patchworkartigen
Sammlung von Aussagen zur
Wahrnehmung im 19. Jahrhundert
annimmt, kann und darf dies nicht
verwundern. Die Materie bietet hier
selbst wohl kaum die Kohärenz, die
eine lineare Entwicklung der Gedanken erlaubt. Crary verweist außerdem immer wieder darauf, dass
ihm an erzwungener Kontinuität
auch nicht gelegen ist. Stattdessen
handelt es sich um interessante Fallstudien, die in ihrem Facettenreichtum und durch riskante Interpretationen die Vielschichtigkeit der
Wahrnehmung in assoziativer Form
verdeutlichen.
Michael Ruoff
Michel Foucault
Schriften in vier Bänden. Dits et
Ecrits. Hg. von D. Defert und F.
Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von
R. Ansén, M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder.
Neuerscheinungen
Band 1: 1954–1969, Frankfurt/
Main 2001 (Suhrkamp), br., 1076 S.,
58.- EUR.
Band 2: 1970–1975, Frankfurt/
Main 2002 (Suhrkamp), br., 1032 S.,
58.- EUR.
Zwei voluminöse, jeweils über tausend Seiten starke Bände der insgesamt vierbändigen Schriften Michel
Foucaults liegen nun vor. Sie machen erstmals in deutscher Sprache
geschlossen auch jene Arbeiten –
Vorträge, Artikel, Vorworte, Interviews, Diskussionsprotokolle, Flugblätter und Rezensionen – des 1984
verstorbenen und nach wie vor bedeutendsten Theoretiker der neueren französischen Philosophie zugänglich, die bislang gar nicht oder
bloß in verstreuten, zum Teil vergriffenen Ausgaben zu haben waren, vom französischen Original
und englischen Übersetzungen einmal abgesehen. ‚Dits et Ecrits’ ergänzt also die Ausgabe der größeren
Werke, die ebenfalls bei Suhrkamp
erschienen sind und parallel noch
durch Vorlesungsveröffentlichungen vervollständigt werden.
Es gehört zur kritischen Tradition
einer engagierten Sozialphilosophie,
die im französischen Sprachraum
von Sartre bis Bourdieu gilt, dass
gerade die kleineren Schriften den
eingreifenden Gedanken nah an die
Praxis herangebracht haben und oft
konkreter sind, als ein systematisches Werk es vermag. Dies entspricht gerade dem speziellen oder
spezifischen Intellektuellen Foucault, der seine theoretische Arbeit
als einen Werkzeugkasten für soziale Bewegungen verstanden wissen
wollte: das am Gegenstand orien-
tierte, punktuelle, genaue Schreiben,
sozusagen in den Mikrophysik der
Macht eindringend. Bislang publizierte vor allem der Berliner Merve
Verlag diese geradezu politischen
Texte Foucaults; und nach wie vor
macht es Sinn, sich die eigentümlich
gelayouteten und echten Taschenbücher von Merve zuzulegen. Sie
können, anders als die dicken
Schriftenbände, ohne Weiteres mitgenommen werden, um so gegebenenfalls im Sinne Foucaults vor Ort
dessen Philosophie zu praktizieren.
Dagegen bilden die „Schriften in
vier Bänden“ ein akademisches Unterfangen, an dem die editorische
Aufmachung der Bände hervorzuheben ist. Im ersten Band findet
sich eine knapp 100-seitige Zeittafel,
die Foucaults Biografie ausführlich
nachzeichnet, nebst der wichtigen
historischen Ereignisse, die Foucaults Arbeit betreffen. So erfährt
man, dass Foucault 1960 in Hamburg „gelegentlich Robbe-Grillet,
Roland Barthes oder den damaligen
König des Krimis Jean Bruce durch
das Labyrinth des Vergnügungsviertels Sankt Pauli“ führte (I, 32). Man
erfährt auch über Foucaults Mitarbeit in politischen Gruppen, über
sein Verhältnis zur Linken und seine
Mitarbeit bei der ‚Libération’, seinen
Kampf gegen die Diskriminierung
der Homosexualität, über Arbeitsgruppen und Projekte, seine HIVInfektion, seine Aids-Krankheit und
den schmerzvollen Tod. In einem
Testament von 1982 heißt es: „Tod,
nicht Invalidität“ und „Keine posthume Veröffentlichung“ (I, 105).
„Die vier Bände dieses Werkes versammeln – mit Ausnahme der Bücher – alle Schriften von Michel
Neuerscheinungen
Foucault, die in Frankreich und im
Ausland erschienen sind“ (I, 9)
schreiben die Herausgeber. Darunter: Die ‚Einführung’ zu Binswangers ‚Traum und Existenz’ (1954),
‚Die Hoffräulein’ (1965), ‚Dies ist
keine Pfeife’ (1968), ‚Foucault antwortet Sartre’ (1968), ‚Was ist ein
Autor’ (1969), der in Japan gehaltene Vortrag ‚Wahnsinn und Gesellschaft’ (1970), der geschichtsphilosophisch äußerst wichtige Text
‚Nietzsche, die Genealogie, die Historie’ (1971), das Manifest der
Gruppe
Gefängnisinformation
(1971), ‚Der Intellektuelle und die
Macht’ (1972), das Gespräch ‚Über
die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten’ (1972) und
Interviews wie ‚Gefängnisse und
Gefängnisrevolten’ (1973), ‚AntiRetro’ (1974) oder ‚Worüber denken die Philosophen nach?’ (1975).
In der Zusammenstellung der
Schriften ergibt sich das Bild des
ungemein
dichten,
thematisch
gleichwohl äußerst vielfältig angelegten Denkens Foucaults, das nur
schwer einer Fakultät, geschweige
denn überhaupt zuzuordnen ist: es
reicht von Psychologie über Literaturwissenschaft zur Geschichtstheorie, immer durchsetzt mit der konkreten politischen Praxis eines Zeit
seines Lebens unbequemen Intellektuellen. Fraglich bleibt, warum nicht
doch alle Schriften in eine Werkausgabe aufgenommen wurden, die
dann mit Ergänzungsbänden zu
vervollständigen wäre (etwa Vorlesungsmitschriften, die als Raubdrucke kursieren). Wenigstens die Gespräche in dem von Rabinow und
Dreyfus herausgegebenen Diskussionsband ‚Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik’ (1987) hät-
ten Berücksichtigung finden können. – Nichtsdestotrotz: ein
brauchbares, nicht nur die Foucaultforschung bereicherndes Projekt.
Namen- und Sachregister sowie ein
Literaturverzeichnis im vierten
Band werden die Edition abrunden.
Roger Behrens
Susanne Lettow
Die Macht der Sorge
Die philosophische Artikulation von
Geschlechterverhältnissen in Heideggers „Sein und Zeit“, Tübingen
2001 (edition diskord), 224 S., 16.EUR.
In der römischen Cura-Fabel des
Hyginus formt die weibliche „Sorge“ (Cura) den ersten Menschen aus
Erde, während Jupiter ihm den
Geist einhaucht. Im anschließenden
Streit um die Namensgebung, an
dem sich auch die Erde (Tellus) beteiligt, balanciert Saturn die Ansprüche aus: Das Geschöpf soll „homo“
heißen, weil es aus „humus“ (Erde)
gemacht ist, nach seinem Tod soll
Jupiter seinen Geist erhalten und
die Erde den Körper. Die „Sorge“
aber soll das Geschöpf besitzen, solange es lebt: Sich „sorgend“ soll es
sich selbst immer schon vorauseilen.
Wenn Heidegger sich in Sein und
Zeit auf den römischen Schöpfungsmythos bezieht – anstatt auf
den biblischen –, verwirft er nicht
nur den emanzipatorischen Anspruch des biblischen Glaubens an
die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, er bricht auch mit dem Phantasma der Allmacht, das diesem Mythos gleichfalls innewohnt und auch
die cartesianische Subjektivität be-
Neuerscheinungen
stimmt. Denn „sorgend“ sich voraus sein, von der „Sorge“ „festgehalten“ und „durchherrscht“
werden, bedeutet in der heideggerschen Lesart, zeitlebens unter einer
Verfehlung stehen. Gottgleich soll
der Mensch zwar sein eigener Ursprung sein, doch zugleich ist ihm
dies in kafkaesker Weise verwehrt:
Das „Selbst, das als solches den
Grund seiner selbst zu legen hat“,
kann „dessen nie mächtig werden
und hat doch existierend das
Grundsein zu übernehmen“ (Heidegger, zit.n. 75).
Subjektivitätsmodelle dieser Art, die
rational durchsichtige, an einer festen Entität orientierte Entwürfe anti-essentialistisch auflösen, haben
Heidegger für feministische Theoriekonzeptionen und deren Suche
nach einer Subjektivität, jenseits der
patriarchial dominierten, interessant
gemacht; für einige Autorinnen antizipiert Heidegger sogar zentrale
Themen feministischer Philosophie.
Susanne Lettow kann nun nachweisen, dass zu derartiger Euphorie
kein Anlass besteht. Sie gibt im Gegenteil zu bedenken, dass der von
Heidegger kritisierte tradierte Körper-Geist-Dualismus die ihm implizite Männlichkeit keinesfalls auflöse,
sondern in eine neue Form „hegemonialer Männlichkeit“ überführe.
Lettow ordnet dies historisch in die
gesellschaftliche Situation der Weimarer Republik ein, wo sich Modernisierer und Konservative verschiedenster Schattierungen ideologisch
rüsten,
um
Frauenemanziption und fordistischer Modernisierung zu trotzen.
Auch in Sein und Zeit werden „Geschlechterverhältnisse“ – wie in der
bisherigen philosophischen Tradition zumeist üblich – nur indirekt,
entnannt (vgl. 101f), thematisiert
und können, wie Lettow auf Foucault bezugnehmend schreibt, nur
aus der „Beschreibung der ‚diskursiven Fakten‘“ (13) rekonstruiert
werden. Hierzu bedient sich Lettow
einer Theorie ideologischer Subjektion, die aus dem von Wolfgang F.
Haug begründeten Projekt Ideologie–Theorie hervorgegangen ist. In
einer daran anschliessenden, in sich
konsistenten Lektüre kann sie zeigen, wie Heideggers „ursprungsmythische Erzählung“ (90) von einer Subjektwerdung handelt, bei der
sich die „Sorge als eine Konstruktion von Mütterlichkeit" erweist, als
eine „Ursprungsmacht“, in deren
„Schatten sich ein autoritäres
(männliches) Subjekt formiert“ (73),
in dem es sich ihr unterwirft.
Dieses Kernstück der Arbeit wird
von verschiedenen philosophietheoretischen Überlegungen flankiert.
Von einer „‚Verjenseitigung‘ neuen
Typs“ (34) ist die Rede oder mit
Bourdieu von einer „konservativen
Revolution in der Philosophie“ (22),
und in der avanciertesten These begegnen sich Heidegger und Marx
auf Augenhöhe. Denn Lettow versteht die im „sich Sorgen“ gegebene
Tätigkeit, die Handlung also, mit
der sich das Subjekt der „Sorge“ unterwirft, als eine Art „praxeologische“ (110) Antwort Heideggers auf
den theoretischen „Bruch“ (43), den
Marx in seiner Wendung zum
„wirklich tätigen Menschen“ (Marx,
zit.n. 56) mit der Bewusstseinsphilosophie vollzogen hat. Gegenüber
der marxschen Vorgabe wird „Praxis“ in der heideggerschen Version
Neuerscheinungen
des „sich Sorgens“ jedoch „nicht
mehr in ihrer Genese aus sozialer
Praxis begreifbar(..)“, sondern nur
als „omnihistorisch angesetzte(.)
‚wesenhafte(.) Grundstruktur‘“, die
sozusagen allem „Dasein“ immanent ist. Diese Ausrichtung wird
von Lettow als „die Operation“ interpretiert, „mit der Heidegger in
Sein und Zeit die theoretische Revolution der Feuerbach-Thesen bändigt“ (48, vgl. 109ff).
Für die Perspektive, aus der diese
Arbeit verfasst ist, kommt der Verknüpfung Heideggers mit Marx eminente Bedeutung zu. Denn mit
der Rede von der „omnihistorisch
angesetzten ‚wesenhaften Grundstruktur‘“ verweist Lettow auf den
Heidegger- und Lacan-Rezipienten
Althusser, der wiederum den Gedanken der Omnihistorizität – für
ihn das Merkmal von Ideologie
schlechthin – an das „Unbewußte“
Freuds angelehnt hatte. Im „Sorgen“ ist Heideggers „In-der-WeltSein“ somit gewissermaßen zur
Reinform althusserscher Ideologiezität geronnen, an der Lettow auch
ihre kritische Analyse des heideggerschen Entwurf einer neuen patriarchalen Subjektivität ausrichtet. Sie
kritisiert somit nicht nur, dass Heideggers Subjektionsmodell auf der
Unterstellung unter eine weiblich
Ursprungsmacht basiert, sondern
auf einem Akt ideologischer Unterstellung überhaupt (vgl. 74). Dies ist
insofern bemerkenswert als neuere
feministische Subjekttheorien wie
etwa von Judith Butler (Psyche der
Macht. Das Subjekt der Unterwerfung,
Suhrkamp 2001) nach wie vor an
dem von Althusser vorgegebenen
Modell festhalten. Doch für Lettow
ist entscheidend, dass Ideologie –
im Unterschied zu Althusser – nicht
als „Ewiges“ gedacht wird und somit kritisierbar bleibt – denn nur
dann kann es die Perspektive einer
nicht-ideologischen Subjektwerdung
überhaupt geben. Und so verweist
Lettow – will sie sich nicht nur von
Heidegger als patriarchalem Theoretiker, sondern auch vom SubjektTheoretiker abgrenzen – mit Brecht
und Gramsci auf emphatisch auf die
„Aktivität eines Sich-kohärentmachens“, bei der es darum geht, zu
den „sich hinter dem Rücken der
Individuen herstellenden Zugehörigkeiten ein bewusstes, kritisches
und aktiv-gestaltendes Verhältnis
herzustellen“ (172).
Dass eine derartige Arbeitsperspektive letztlich wohl nicht unproblematisch ist, läßt sich mit einem
Blick auf Slavoj ÎiÏek vermerken,
der die cartesianische Subjektivität
rehabilitiert, gerade indem er am
Unbewußten festhält. In Die Tücke
des Subjekts (Suhrkamp 2001) versucht er nachzuweisen, dass postcartesianische Philosophien exzessive Momente wie das „diabolische
Böse“ (Kant) oder die „Nacht der
Welt“ (Hegel) enthielten, die sie allerdings sofort zu „normalisieren“
trachteten. Für Heideggers Philosophie hingegen konstatiert er eine
Leerstelle; Heideggers Begriff von
Subjektivität scheine „diesen innewohnenden Exzess nicht in Betracht zu ziehen“, er decke „jenen
Aspekt des Cogito nicht ab, von
dem Lacan sagte, er sei das Subjekt
des Unbewussten." (ÎiÏek, a.a.O.,
89). Damit erschließt sich für ihn
auch Heideggers Nazismus in neuer
Weise. Anders als Heidegger es
nachträglich glauben machen wollte,
war dies keinesfalls den unreflektier-
Neuerscheinungen
ten subjekt-philosophischen Resten
seines Denkens geschuldet – etwa
dem Dezisionismus –, sondern eher
ein Versuch, den Konsequenzen
dieses exzessiven Potentials neuzeitlicher Subjektivität in der Überantwortung an eine geschichtsmächtige
Instanz auszuweichen.
Mit ÎiÏek ließe sich nun fragen, ob
Lettow nicht einer falschen Alternative Heideggers aufsitzt, wenn sie
einerseits das von Althusser in die
marsche Philosophie eingebrachte
„Unbewusste“ exkludiert (vgl. 74),
sich somit gleich Heidegger vom
„exzessiven Potential neuzeitlicher
Subjektivität“ verabschiedet, andererseits aber dem völligen Ausgeliefertsein des heideggerschen Subjektionsmodells einen Vernunftsbegriff
entgegensetzt, der darauf abhebt,
Leben liesse sich umfassend rational
„aneignen“ (vgl. 99f, 171f).
Für die in Aussicht gestellte weitere
feministische Aneignung Heidggers
könnte dies vielleicht eine spannende Fragestellung sein, der das Buch
mit seiner Fülle des ausgebreiteten
Materials bestens entgegenkommt.
Rainer Alisch
Thema wäre, sondern weil diese
Arbeit, die vom Frankfurter Fachbereich als beste Dissertation des
Jahres 1999 ausgezeichnet wurde1,
imstande ist, nicht nur auf formal
historische, sondern auch auf wissenschaftstheoretische und philosophische Implikationen auszugreifen,
die sich im Rahmen einer kritischen
Insichtnahme
wissenschaftlicher
Annäherung an die gesellschaftlich
verfaßte Welt als von großer Bedeutung erweisen. Streng genommen,
kann die vorliegende Arbeit (vermutlich, ohne daß dies dem Autor
wirklich bewußt geworden ist) auch
als ein Gegenentwurf zu einem von
mir vor einiger Zeit besprochenen,
eher programmatisch ausgerichteten
und als solchen auch deklarierten
Sammelband aufgefaßt werden, den
ich seinerzeit allerdings überwiegend zu bemängeln hatte.2 Denn
ohne es explizit zu erwähnen, wird
in diesem Text, der sich in der
Hauptsache mit einer Untersuchung
der Bedeutung von Symmetrieprinzipien für die moderne Physik befaßt, ein Programm entworfen, das
An der Universität Frankfurt/Main ist
das Institut für Wissenschaftsgeschichte
dem Fachbereich Physik zugeordnet
und nicht dem Fachbereich Philosophie.
2 Es handelt sich dabei um die Festschrift für W.G.Saltzer, nämlich
P.Eisenhardt, F.Linhard, K.Petanides
(eds.): Der Weg der Wahrheit. Aufsätze
zur Einheit der Wissenschaftsgeschichte. Hildesheim, 1998 (Olms). Meine Besprechung dazu ist R.E.Zimmermann:
Wo eine Wahrheit ist, da ist auch ein
Weg. Anmerkungen zu einer neuen
Einheit. System & Struktur VII/1&2,
1999, 159-164.
1
Frank Linhard
Historische Elemente einer
Prinzipienphysik
(Texte und Studien zur Wissenschaftsgeschichte, Band 3), Hildesheim, Zürich, New York 2000
(Olms), Pb., 258 S., 29.80 EUR .
Ich möchte die Aufmerksamkeit auf
dieses Buch (tatsächlich eine Dissertation) lenken, nicht, weil sein Thema, die Physikgeschichte, für den
„Widerspruch“ ein sehr geläufiges
Neuerscheinungen
auf die Systematik wie Methodik der
Reflexion am Beispiel einer Naturwissenschaft geht und sich dabei
noch der Argumentationslinie von
Leibniz her zu versichern imstande
ist.3 Vor allem im Hinblick auf eine
Prinzipienphysik gelingt es dem Autor auf erhellende Weise, die philosophischen Implikationen mit Verweis auf das Verhältnis der Physik
zur Metaphysik einerseits und auf
die Rolle von apriorischen Vorannahmen andererseits herauszuarbeiten. [215 ff.] Die kritische Relevanz
dieser Ergebnisse liegt im folgenden: Nicht nur wird nämlich dabei
über die Position des Experimentes
als eindeutiges Realitätskriterium
verhandelt, sondern es wird auch
die Einordnung eines theoretischen
Kerns von Philosophie ermöglicht,
welcher sich als ultima philosophia
versteht, eher denn als prima philosophia im ursprünglichen, AristoteWie es häufig in einem primär auf die
Physik abzielenden Text geschieht, geht
auch Linhard nicht zureichend hinter
die Einsichten Leibnizens auf jene Spinozas zurück. Seit den wissenschaftstheoretischen Diskussionen im Umkreis
von Einstein, Reichenbach, Cassirer und
anderen im Zusammenhang mit dem
Machschen Prinzip, also namentlich in
den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, dominiert immer der Rekurs auf
Leibniz. Das gilt noch heute für die aktuelle Diskussion über philosophische
Aspekte der Quantengravitationstheorie,
wie sie etwa von John Baez, Julian Barbour, Christopher Isham, Louis Kauffman und Lee Smolin gegenwärtig geführt wird. Das ändert aber nichts daran,
daß
der
Urheber
dieser
Argumentation eher Spinoza ist.
3
lischen Sinne. [17 Anm. 5] Außerdem wird hierbei einem systematischen Denken das Feld bereitet,
welches sich gerade heute, in der
Zeit der interdisziplinär (und auch
interkulturell) verknüpften Begründungsprojekte von Welthaftem, als
von großer Dringlichkeit erweist.
Beispielsweise könnten viele theoretische Umwege in der Philosophie
des Geistes erspart werden, würde
man dieser dieselben Grundlagen
voranstellen, wie das im vorliegenden Text für den Fall der Physik
expliziert worden ist.4 Das heißt,
man sieht hier an einer Arbeit, die
einen kleinen, wenn auch zentralen
Ausschnitt aus der physikalischen
Forschung thematisiert, wie die
Grundidee im Großen mit weitgehenden Konsequenzen fortgeführt
werden müßte. Nüchternheit und
rational verfaßte Herangehensweise
sind hierfür die ersten Kriterien, die
sich ihrerseits auf der Basis eines
angemessenen Naturbegriffs erheben, in dessen Rahmen der Mensch
eine eher depotenzierte Position
einnimmt. Und in der Tat ist ein
solcher, als Konsequenz aus dem
hier Dargelegten folgender Naturbegriff das Desiderat unsereres neuen Jahrtausends. Mithin sei das hier
besprochene Buch allen philosophisch Interessierten ausdrücklich
empfohlen.
Rainer E. Zimmermann
Michael Pauen
Das von mir hierselbst besprochene
Buch von Pauen ist in dieser Hinsicht
gerade ein Negativbeispiel.
4
Neuerscheinungen
Grundprobleme der Philosophie
des Geistes
Eine Einführung. Frankfurt/Main
2001 (Fischer), 320 S., brosch.,
14.90 EUR.
Wie der Autor gleich zu Beginn so
richtig bemerkt, scheiden sich „(a)n
der Philosophie des Geistes ... die
Geister“, nämlich im Hinblick auf
die Frage, ob sie etwas nützen könne bei der Aufklärung von Problemen, die mit dem Aspekt des Geistes verbunden sind. Zugleich entwirft er ein düsteres Schreckensbild
vom Rest der Philosophie, namentlich der Naturphilosophie, und
fragt, ob auch die Philosophie des
Geistes das Schicksal anderer philosophischer Gebiete teilen und mithin durch die empirischen Wissenschaften verdrängt werden wird.
Wie auch bei anderen Veröffentlichungen des Autors zu diesem
Thema, beginnt mit dieser Grundvoraussetzung, dass es nämlich auch
wirklich so sei, wie es das hier entworfene Bild androht, das wahre
Problem des Textes. Und insofern
fügt sich der vorliegende Text in eine Strategie ein, die vor allem im
Umkreis einer Gruppe jüngerer Philosophen und Wissenschaftler verbreitet ist, die ich etwas kursorisch
als „Kreuzritter der Philosophie“
bezeichnen möchte, also mit einem
Titel, der ursprünglich wohl nur auf
einen ihrer früheren Hauptprotagonisten, der an dieser Stelle nicht erwähnt werden soll, angewendet
wurde. Seinerzeit erschien ein dicker
blauer Band zum Thema „Bewusstsein“, den ich an anderem Orte be-
reits zureichend beschrieben habe.5
Ich hatte damals schon darauf hingewiesen, dass mir das ganze Unternehmen eher als eine Art „modische Rettungsoperation zu konjunkturellen Zwecken“ zu dienen
scheint, vor allem, um der Philosophie ein Problemfeld zu retten, das
ihr ganz allein zukäme. Das modisch überbewertete Material aus
der angelsächsischen Philosophie
steht dafür allemal bereit.6 (Freilich
weiß man ja im übrigen, wie das mit
den Kreuzrittern am Ende ausgegangen ist.) Auch im vorliegenden
Text wimmelt es nicht nur wieder
von Ismen aller Art, sondern es
werden auch die gängigen Accessoires dieses Modetrends nicht nur
übernommen, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Das erkennt man im wesentlichen an zwei
Punkten, auf die ich mich hier beschränken will7: Zum einen herrscht
die Unklarheit der Formulierung
R.E. Zimmermann: Materie und Bewusstsein. Klares und Unklares zu einem aktuellen Thema. System & Struktur V/1, 1997, 103-109.
6 Interessanterweise hatte damals sogar
einer der eingeladenen Beiträger zu dem
„Bewusstseinsbuch“, nämlich David
Papineau, selbst ein solches Argument
angedeutet.
7 Ein dritter Punkt wäre die chronische
Abwesenheit der Literatur jener Bewusstseinsforscher, Philosophen wie
Wissenschaftler, die anderen Denklinien
folgen. Unter anderem wären hier Hameroff und Penrose zu nennen, aber
auch die „Gegenpartei“ der Quantengravitationstheoretiker, die sich durchaus zum Thema zu äußern imstande
sind.
5
Neuerscheinungen
vor (obwohl doch eine sich als analytische Philosophie verstehende
Denkweise gerade immer die eigene
Fähigkeit zur klaren, korrekten usw.
Formulierung
hervorzuheben
pflegt). Nur einige Beispiele hierzu:
„Wir wollen schließlich nicht nur
wissen, was gemeint ist, wenn von
Bewusstsein und seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen
gesprochen wird; wir wollen zweitens auch wissen, was Bewusstsein
‚tatsächlich ist‘“ heißt es im Überblick. (9) Wenn wir davon ausgehen,
dass auch das Bewusstsein lediglich
nach Maßgabe dessen modelliert
wird, was wahrgenommen und theoretisch auf propositionale Weise
darüber formuliert werden kann,
dann fragt man sich freilich, was es
denn bedeuten soll festzustellen,
was etwas tatsächlich sei. Bezieht
sich diese Bestimmung auf einen
ontologischen oder auf einen epistemologischen Bereich? Und wenn
auf den ersteren, welche Vorstellung
von Ontologie schwebt dabei immer schon vor? Meinen wir mit
„tatsächlich“ also, wie das Bewusstsein modaliter tatsächlich (also aktual) sei oder wie es realiter wirklich
ist? Oder: „Es gibt mittlerweile überzeugende Belege dafür, dass eine
Theorie des Mentalen (Theory of
Mind) konstitutive Bedeutung sowohl für den Zugang zu unseren eigenen mentalen Zuständen wie zu
denen anderer Personen hat. Kleinkinder, die noch nicht über eine solche Theorie verfügen, machen daher charakteristische Fehler bei der
Selbst- und Fremdzuschreibung von
mentalen Zuständen.“ (97) Abgesehen davon, dass die hier angedeutete Übersetzung nicht vollständig
überzeugt, fragt sich folgendes: Tre-
ten diese Fehler der Zuschreibung
auch bei Erwachsenen auf, welche
die Theorie nicht kennen? Die an
dieser Stelle für später angekündigten näheren Ausführungen zu der
fraglichen Theorie (266 ff.) erweisen
sich dabei als eine Aufzählung von
Ergebnissen
der
klinischen
Entwicklungspsychologie.8
Die
Frage wäre hier natürlich, inwieweit
der Autor sich vertrauensvoll aus
dem
Inventar
empirischer
Ergebnisse (welchem methodischen
Ansatz sie auch immer entstammen
mögen) bedienen darf, wenn er sich
doch zu Beginn seines Textes so
deutlich gegen das „bloß“ empirisch
Eingesehene wendet? Zum zweiten
reproduziert der Autor auch gängige
Auffassungen, die eher dem
Wunschdenken geschuldet sind, als
der Einsicht in den „harten“ Beleg:
Wenn man dort noch um eine Seite
zurückblättert, stößt man auch sogleich
auf einen Eintrag zu Oerter und Montada, zwei Autoren, die vor längerem ein
Standardwerk zur Entwicklungspsychologie veröffentlicht haben, das allerdings
nur ein – durchaus umstrittenes – Segment möglicher Forschungsansätze repräsentiert. Die Frage, inwieweit die im
Vorliegenden referierten Ergebnisse
wirklich verbindlich sind, wird vom Autor freilich nicht thematisiert. Aber das
wäre gerade die Aufgabe der Philosophie: nicht das zu referieren, was mehr
oder weniger willkürlich aus der Fachliteratur einer Einzelwissenschaft herausgesucht worden ist, sondern den Forschungsstand auf seinen Gesamtzusammenhang hin kritisch zu befragen
und dann an diesem aufzuzeigen, was
nicht mehr zureichend Gegenstand dieser Wissenschaft sein kann.
8
Neuerscheinungen
Beispielsweise geistert wieder einmal die berühmte Nagelsche Fledermaus durch den Text, und gleich
zu Beginn wird die Frage gestellt, ob
eine vollständige Theorie der neuronalen Prozesse von Fledermäusen
auch eine Vorstellung von deren
mentalen Zuständen implizieren
könne. (10)9 Die Antwort soll naheliegenderweise sein: Nein, denn die
bloße Einzelwissenschaft (Biologie
usw.) kann das „Eigentliche“ des
Mentalen ja niemals zureichend erfassen. Dazu bedarf es der Philosophie. Die tatsächliche Antwort ist
tatsächlich: Nein – freilich mit der
wesentlichen Einschränkung, dass
die besagte Theorie gleichwohl die
Manipulation der Zustände bewirken kann. Aber die Vorstellung davon wäre uns natürlich in jedem
Falle fremd, einfach deshalb, weil
wir keine Fledermaus sein können.
Und wenn wir eine wären, könnten
wir unsere Einsicht nicht mehr auf
propositionale Weise formulieren.
Wir können uns ja noch nicht einmal zureichend genau vorstellen,
wie die mentalen Zustände anderer
Menschen beschaffen sind – eine alte Weisheit der hermeneutisch verfassten Philosophie, allerdings nicht
der analytischen – wie sollten wir
das also im Falle der Fledermäuse
können?10 Wie so oft, hatte einst
Natürlich kommen auch die bei solcher
Gelegenheit
aufzuzählenden
„Farbblinden“ zu ihrem Recht.
10 Im übrigen ist das Bewusstsein „klassisch-makroskopisch“, wenn es auch aus
Mikroskopischem emergiert – wie das ja
in der Natur immer ist. Und so, wie wir
nicht „quantentheoretisch“ wahrnehmen und denken können, können wir
9
der Kollege Nagel eine weitoffene
Tür eingerannt und nachher behauptet, sie sei verschlossen gewesen. Heute wird das dann permanent nachgebetet. Insofern also
können wir beruhigt sein: Wieder
ein Buch, das wir uns ersparen können. Traurig nur, dass sein Inhalt
schon seit längerem in Seminaren
Verbreitung findet und auf diese
Weise Einseitigkeit und Halbwissen
unter arglose Studierende befördert.
Rainer E. Zimmermann
Martina Plümacher, Volker Schürmann, Silja Freudenberger
Herausforderung Pluralismus
Festschrift für Hans Jörg Sandkühler, Frankfurt/Main 2000 (Peter
Lang), Pb., 356 S., 51,10 EUR.
Die vorliegende Festschrift für
Hans Jörg Sandkühler anläßlich seines 60. Geburtstages ist dem Thema
„Pluralismus“ gewidmet. Ausgangspunkt ist die Überlegung, welchen
theoretischen und praktischen Konsequenzen des Umstandes Rechnung zu tragen sei, daß die Gesellschaften auf diesem Planeten im
Zuge der fortschreitenden „Globalisierung“ und „Migration“ faktisch
bereits plural verfaßt sind. Vor allem wird dabei auch nach den Invarianten und Vereinheitlichungsprinzipien gefragt, die in einer Pluralität
der Perspektiven und Konstruktionen auffindbar sein mögen. Unter
den Rahmentiteln „Einheit und
Vielheit“ (17-77), „Philosophie der
Geschichte(n) und Geschichte(n)
auch nicht „neurologisch“ wahrnehmen
und denken.
Neuerscheinungen
der Philosophie“ (81-162), „Marxismus und Pluralismus“ (165-217),
„Pluralismus und Ethik“ (221-266)
sowie „Pluralismus in Recht und
Politik“ (269-326) ordnen sich insgesamt 24 Beiträge an, von denen
die meisten insofern gelungen erscheinen, als sie das selbstgesetzte
Problem zureichend zu behandeln
imstande sind. Ein breites thematisches Spektrum wird abgedeckt,
von der Besprechung einer neuen
Wende in der lateinamerikanischen
Philosophie (von Raúl FornetBetancourt, 17-24) über Aspekte
von Weisheit (Arnim Regenbogen,
57-67) und Hegemonie (Volker
Schürmann, 69-77), über den Wirklichkeitsbegriff bei Schelling (Martin
Schraven, 135-145) und den pluralen Marxismus (Wolfgang Fritz
Haug, 179-194), bis hin zur Frage
der Geschlechterdifferenz (Choe
Hyon Dok, 269-276). Daneben behandeln auch die übrigen Beiträge
von Silja Freudenberger, Gerhard
Pasternack (Themenkreis 1), Félix
Duque, Lothar Knatz, Lars Lambrecht, Detlev Pätzold, Pirmin Stekeler-Weithofer (Themenkreis 2),
Gian Mario Bravo, Thomas Metscher, Friedrich Tomberg (Themenkreis 3), Kurt Bayertz, Winfried
Franzen, Wilhelm G. Jacobs, Martina Plümacher (Themenkreis 4),
Werner Goldschmidt, Domenico
Losurdo, Juha Manninen und Georg Mohr (Themenkreis 5) vielseitige (eben plurale) Fragestellungen im
Zusammenhang mit der Hauptthematik. Hervorzuheben ist die interessante Diskussion Schürmanns,
auf einer marxistischen Grundlage
bei der Entgegensetzung von Pluralismus und Monismus anzusetzen
und in eine Thematisierung der ge-
sellschaftlichen Grundnormen und
des Verhältnisses von Politik und
Recht einzumünden, dabei zugleich
den Aspekt einer möglichen interkulturellen Philosophie streifend.
Gleichfalls die Betrachtung Schravens zur Rolle der negativen und
positiven Philosophie bei Schelling.
Vor allem die Gegenüberstellung
von Transzendenz und Immanenz
(141-145) erscheint hierbei sehr erhellend. Nur selten erweisen sich
Texte als wenig befriedigend: Beispielsweise hätte man sich in dem
ansonsten anregenden Aufsatz von
Plümacher zum Toleranz-Thema
(255-266) etwas genauere Ausführungen zu den Grenzen der Toleranz gewünscht. Sowohl dieses
Thema als auch das von Georg
Mohr: Menschenrechte, demokratische Rechtskultur und Pluralismus
(315-326) sind ja aus aktuellem Anlaß Gegenstand der augenblicklich
laufenden Ethik-Diskussion. Auch
bei dem letzteren Aufsatz hätte man
sich einen deutlicheres Ergebnis
hinsichtlich der Frage gewünscht,
inwieweit Menschenrechte auf eine
universale, im wahrsten Sinne des
Wortes inter-kulturelle, Fundierung
gestützt werden können oder nicht.
Noch seltener entsteht der Verdacht, daß sich die bewußte Besetzung vermeintlich „linker“ Themen
mitunter zu Lasten der wissenschaftlichen Stringenz auswirkt, wie
zum Beispiel in dem Aufsatz von
Choe, der Auffassungen von Butler
und Heinämaa recht undifferenziert
gegenüberstellt, wenn auch seine
Diskussion des semantischen Unterschiedes zwischen sex und gender nicht uninteressant ist. (270 ff.)
Allerdings sollte jede feministische
Kritik an Simone de Beauvoir zu-
Neuerscheinungen
nächst unter den Ideologievorbehalt
gestellt werden. Der vorgelegte
Band überzeugt auch in der äußeren
Form des Layouts (sein Schriftbild
etwa richtet sich nicht nur an optisch Hochbegabte, wie das ja neuerdings immer mehr zur Regel
wird). Ein Lebenslauf Sandkühlers
sowie dessen Schriftenverzeichnis
vervollständigen eine abgerundete
Darstellung, bei der man allenfalls
noch den eher „onto-epistemischen“ Sandkühler vermißt. Alles in
allem eine sehr gelungene and anregende Sammlung.
Rainer E. Zimmermann
Katherine Stroczan
Der schlafende DAX oder das
Behagen in der Unkultur
Die Börse, der Wahn und das Begehren, Berlin 2002 (WagenbachVerlag), 109 S., 18,50 EUR.
Alles Psycho-Raffkes – oder was?
Der Deutsche Aktienindex (DAX)
dümpelte über die Jahre fast unbeachtet vor sich hin. Ab Mitte der
1980er Jahre aber jagte eine Hausse
die nächste. Der DAX explodierte
förmlich, schoß bis März 2000 auf
über 8 000 Punkte. Seither jagt eine
Baisse die andere. Der DAX sauste
in den Keller; nun liegt er weit unter der Hälfte des Höchststandes,
und beim Nemax verlief die Bergund Talfahrt noch viel rasanter. Für
viele Millionen spätberufener Anleger mußten Aktiengeschäfte beinahe
notwendig zu einem verlustreichen
finanziellen Abenteuer werden.
Statt auf die seit geraumer Zeit nur
noch fallenden Aktien-Indices zu
starren, wählt Katherine Stroczan
eine gewiß amüsantere Variante,
wenn sie das Geschehen rund um
die Börse aus psychoanalytischer
Sicht einzuordnen versucht.
Das an den Börsen grassierende
Fieber der vergangenen Jahre beruhe auf einer ausgefeilten Beziehung
zwischen den Medien, die das dortige Geschehen von selbsternannten
Experten garkochen lassen, und den
dieser Beeinflussung beinahe wehrlos ausgelieferten Investoren. Diese
dubios-sinistre Beziehung bildet den
zentralen Bezugspunkt der Autorin,
die sich mit vielleicht zugrundeliegenden ökonomischen Zusammenhängen nicht länger aufhält, sondern
ihre vielgestaltige Analyse des – ihr
nur virtuell zugänglichen – Anlegers
qua Berichterstattung auserwählter
Printmedien und Fernsehsendungen
angeht.
Die Autorin macht einen von den
Medien geschaffenen neuen Typus
von Mensch, den Homo investor,
aus, der durch einen – natürlichen
und/oder oktroyierten – zu nackter
Gier entsublimierten Affekt getrieben, dem Imperativ des ‚ultimativen
Coups‘ folgt – wobei sie wohlweislich offen läßt, wie der beschaffen
sein könnte. Die Gesamtheit dieser
neuen menschlichen Sub-Spezies
sieht sie als Anleger-Horde, die –
vergleichbar einer Glaubensgemeinschaft – auf gemeinsame Verhaltensweisen eingeschworen wird: den
‚cleveren Anleger‘ als Ziel und Sinn.
Erfolge gelten als sakrosankte Maxime der Börsianer; diese Erfolge
leben sich aber weniger in Gewinnen und Verlusten, als vielmehr in
einem breiten Spektrum komplexer
psychischer Pathologien (mit einer
beeindruckenden Fülle strategischer
Neuerscheinungen
Instrumente) aus. Keine andere Institution, insinuiert die Autorin, verfüge über gleichwertige Mittel, die
Gesamtheit pathologischer Phänomene auf eine Weise zu binden, wie
es der Börsengemeinde gelingt. Die
Börse sei daher das Feld, auf dem
mittels Triebregression gleichzeitig
anal- und oralsadistische Triebregungen agiert, ödipale Konflikte
wiederbelebt und narzistische Regressionsversuche
unternommen
werden können. Bei einer dermaßen
triebgesteuerten Tätigkeit, bei welcher der Höhepunkt nie erreicht
werden könne, sei die postkoitale
Tristesse die zwangsläufige Konsequenz jeglicher Tätigkeit und die
einzige Invariable. Möglicherweise
sei mit der Erschaffung dieses vollendeten Konstrukts die herkömmliche Sexualität inzwischen ganz ersetzbar, biete die Gier doch viel frequentere,
jederzeit
abrufbare,
objektunabhängige und störungsfreie Befriedigung auf der Jagd nach
virtuellem und realem Erfolg.
Ob die immerhin annähernd 6 Millionen Menschen in Deutschland,
die Aktien besitzen, wohl eine Ahnung davon haben, wie es um sie
bestellt ist? Ganz zu schweigen von
jenen, die ihre Aktien mit Krediten
kauften oder als Alterssicherung erwarben und nun vor dem Ruin ihrer
Existenz stehen. Freilich ist dies
vornehmlich in den USA der Fall,
und vielleicht gilt dort eine andere
Börsen-Psychoanalyse. Was aber ist,
wenn die deutschen Anleger an der
medialen Berichterstattung weit weniger interessiert sein sollten als Katherine Stroczan?
So amüsant der Ansatz sein mag,
das Börsengeschehen psychoanalytisch zu betrachten, so problema-
tisch muß es erscheinen, derart generös zu generalisieren, denn vielleicht ist ja alles auch ganz anders.
Eine Supervision gelegentlich ist jedenfalls nie verkehrt.
Bernd M. Malunat
Charles Taylor
Die Formen des Religiösen in
der Gegenwart
IWM-Vorlesungen zu den Wissenschaften vom Menschen, aus dem
Englischen v. Karin Wördemann,
Frankfurt/Main 2002 (Suhrkamp),
102 S., 8 EUR.
Charles Taylor (geb. 1931) umkreist
in seinen Werken immer wieder das
Thema der menschlichen Identität.
Beginnend 1975 in seiner umfangreichen Untersuchung zu „Hegel“
und vier Jahre später in „Hegel and
Modern Society“ betonte er die
Notwendigkeit einer Revision des
modernen liberalistischen Menschenbildes, in dem das Individuum
völlig unvermittelt und aus freien
Stücken seine Identität formieren
soll. Mit seiner Aufforderung,
menschliche Identität im „kulturellen Milieu“ zu verankern, schwenkte
er mit den Publikationen „What's
Wrong with Negative Liberty?“, vor
allem aber mit „Sources of the Self“
in die Phalanx kommunitaristischer
Kritik am liberalen unencumbered self
(uneingebetteten/unverankerten
Selbst) ein.
Später, in den späten 80er und 90er
Jahren, betonte er – ähnlich wie A.
Honneth, aber unabhängig von diesem – den Begriff der Anerkennung
(recognition) als identitätsbildendes
Moment. Anerkennung bezog er
Neuerscheinungen
dabei auch politisch auf das Selbstbestimmungsrecht
kultureller
Gruppierungen und ging sogar so
weit, in seinem Kampf für die Unabhängigkeit Quebecs gegen den
kanadischen Premierminister Trudeau anzutreten.
Auch der vorliegende Band „Formen des Religiösen“ behandelt das
Thema der kulturellen Verankerung
menschlicher Identität, diesmal unter dem Blickwinkel religiöser Überzeugungen. Dabei knüpft Taylor an
die Fragestellungen an, die in
„Sources of the Self“ bereits aufgeworfen und behandelt wurden. Dort
wurde nach der Fundierung einer
Ethik ohne theistische Basis – genauer: nach dem Ende theistischer
Systeme – gefragt und die neuen
moralischen Quellen in dem festgemacht, was Taylor expressivistische (expressivist) Formen von Moral
nannte. In „Formen des Religiösen“
wird dieser Ansatz wieder fruchtbar
gemacht. Dieser Band ist die Ausarbeitung von Vorlesungen, die er am
Wiener Institut für die Wissenschaften
vom Menschen im Jahr 2001 hielt.
Ausgangslage und Quelle seiner
Überlegungen ist die 1902 erschienene Schrift des Pragmatisten William James (1842-1910) „Die Vielfalt
religiöser Erfahrung“ (Varieties of Religious Experiences), die heute noch in
den USA als wegweisende Kulturtheorie angesehen wird. Der erste
Teil, „Was ist religiöse Erfahrung?“
überschrieben, beschäftigt sich mit
James’ Theorie religiöser Erfahrung,
genauer mit dem, was James als
Kern von Religion betrachtete. Im
zweiten Teil, „Die Zweimalgeborenen“, wird das „eigentliche Herzstück der Jamesschen Diskussion“
behandelt, worin James seine religiöse Kultur- und Gesellschaftstheorie entwickelt. Zentral hierfür ist
dessen Auseinandersetzung mit dem
Phänomen des Agnostizismus in
der Moderne. Taylor entdeckt James
dort als den „Philosophen der
Schwelle“, der jedoch die Religion
noch gegen skeptizistische, szientistische wie rationalistische Einwände verteidigt. Im dritten Teil des
Bandes, „Religion heute“ überschrieben, wird dann das zuvor erarbeitete Instrumentarium auf die
modernen Formen von Religion angewendet und unter zwei Stichworten diskutiert: Säkularisierung der
Öffentlichkeit und Individualisierung von Spiritualität. Abgerundet
wird die Schrift in ihrem vierten Teil
von einer Diskussion der Frage
„Hatte James also recht?“.
Im ersten Teil des Bandes versucht
Taylor James’ Auffassungen von
Religion nachzugehen. Für diesen
liege der wirkliche Ort von Religion
klar auf der Seite „der individuellen
Erfahrung und nicht im körperschaftlich verfassten Leben“ (13),
also der Kirche, der Religionsgemeinschaft oder kanonischen Regularien. Erfahrung (experience) ist nach
James etwas Individuelles und Ungeteiltes; und Individualität „ist im
Gefühl begründet“ und nicht in den
Ideen, den Theorien oder – wie er
es auch antirationalistisch ausdrückt
– in der Vernunft. James war überzeugt, dass die Theorien der Religion „variabel und sekundär“, während Gefühle deren „konstantere
Elemente“ seien.
Damit wandte sich James nicht nur
gegen die seinerzeit gängige Auffassung, wonach die Religion im we-
Neuerscheinungen
sentlichen aus gemeinschaftlich vereinbarten und schriftlich fixierten
Glaubensüberzeugungen zu bestehen habe. Er versuchte damit, aus
zwei Grundproblemen von Religion
zu entfliehen: erstens dem Agnostizismus: Religion sei zu verwerfen –
so der Agnostiker –, wenn die Vernunft sie als unhaltbar einstufe; und
zweitens allen deontologischen Ethiken, wonach es jedermanns/fraus
Pflicht sei, Geboten zu folgen,
selbst wenn das Gefühl oder die
Neigung sich dagegen sträube.
Gleichzeitig steht James mit seiner
Auffassung von persönlicher Religion in einer langen Tradition. Mit
viel Sachverstand und sehr kenntnisreich versteht es Taylor, James’
Theorie in den historischen Zusammenhang der meist spiritualistischen Religionsauffassungen einzuordnen, etwa des Jansenismus oder
des religiösen Humanismus des 17.
Jahrhunderts. Was nach Taylor jedoch James’ Modernität ausmacht
ist weniger die Betonung der Individualität, der Spiritualität und des
Persönlichen von Religion als vielmehr der Umstand, dass dies im
Rahmen einer essentialistischen
Rückzugsstrategie geschieht, welche
die Religion unangreifbar machen
soll. Religion, die ihren Stellenwert
im öffentlichen Raum eingebüsst
hat, soll sich auf ihren Kern konzentrieren: die individuelle religiöse
Erfahrung. James erkennt die Säkularisierung des sozialen Lebens wie
die Trennung von Kirche und Staat
an und reagiert darauf mit der Theorie persönlicher Religiosität.
Taylors erster Kritikpunkt an James
wendet sich gegen dessen individualistische Einseitigkeit: so klammere
er alles religiöse Leben aus, wobei
doch kollektive Erfahrungen konstitutiv für religiöse Erfahrung werden. Man denke an die Gebets- und
Versammlungs-Rituale. Zum zweiten wendet er sich gegen James’ radikalen Individualismus in Form eines Privatsprachenarguments – wie
kann jemand persönliche Erfahrung
haben, ohne auf eine geteilte Sprache zurückzugreifen? – und drittens
gibt er gegen James’ Emotivismus
und Intuitionismus den Kantsche
Einwand gegen Hume zu bedenken,
wie denn Erfahrung ohne Form
(Begriff) möglich sei.
Im zweiten Teil, „die Zweimalgeborenen überschrieben, stellt Taylor
dar, dass es James im Wesentlichen
darum gegangen sei, agnostischen
Einwänden der Moderne zu begegnen. Er sah in der Moderne Bedrohungspotenziale, die er mit dem
Begriff der Melancholie umriss. Melancholie stand für ihn für den vollständige Sinnverlust, den ennui, die
grenzenlose Langweile des modernen entgrenzten Individuums. In
einer Welt ohne Sinngarantie suchte
James nach Argumenten, die den
Schuldigen, den religiösen Skeptizismus (Agnostizismus), entkräften
sollten. Hauptschuldiger in der Gemeinschaft der Agnostiker war für
ihn der Rationalismus/Szientismus
und dessen Postulat, dem gemäß
nur das als wahr anerkannt werden
könne, was zweifelsfrei bewiesen
werden könne.
James argumentierte dagegen mit
der Formel Cliffords: „Lieber den
Verlust von Wahrheit als die Möglichkeit einen Irrtum zu riskieren!“
(45). Das heißt: wenn wir vor der
Wahl stehen, ein Gut (Gott) zu verlieren, nur weil wir es nicht zweifelsfrei als wahr beweisen können, oder
Neuerscheinungen
an diesem Gut festzuhalten, auch
wenn wir es nicht beweisen können,
dann sei es zweckmäßiger, das Prinzip der Beweispflicht aufzugeben als
das Gut.
Taylor entgegnet solchen Spitzfindigkeiten, dass auch umgekehrt ein
Dilemma konstruiert werden könne,
und dass der Streit nicht entscheidbar sei. Entscheidender für ihn ist
die Verortung von James als dem
„Philosophen der Schwelle“, als einem Denker, der versuchte, dem
Verlust kollektiver Sinnhorizonte
nachzuspüren und gegen sie eine
Theorie personaler Religiosität zu
errichten.
Hatten die vorigen Kapitel die Religion mit Hilfe der Jamesschen Theorie als Ort persönlicher Erfahrung
angesehen, so greift Taylor auf diese
zurück, wenn er sich jetzt den Formen des Religiösen in der Gegenwart zuwendet. Grundlage bilden
die Einsichten James’, die sich in
zwei Thesen zusammenfassen lassen: 1. das öffentliche Leben unterliegt einer immer stärker werdenden
Säkularisierung; oder anders formuliert: der soziale Rahmen duldet zunehmend weniger die Wiederspiegelung bestimmter Glaubensüberzeugungen. 2. Spiritualität im Sinne
personaler Religion schafft immer
weniger kollektive Bindungen; oder
anders formuliert: Religiosität wird
zunehmend personal und individuell.
Taylor macht auf eine beispiellose
Weise die Geschichte der religiösen
Begründungen von Gesellschaft auf,
die zu unseren modernen Auffassung führen:
1. Die Vor-Durkheimsche Auffassung von Gesellschaft und Religion:
in dieser noch verzauberten Welt ist
das Sakrale allgegenwärtig. Gottes
Vorsehung und Plan ist in der Gesellschaft und im Kosmos unmittelbar präsent.
2. Die Paläo-Durkheimsche oder
die barocke bzw. katholische Auffassung von Gesellschaft und Religion: hier ist das Sakrale nur mehr
im politischen Gemeinwesen präsent und zwar als Idee der sittlichen
Ordnung (Locke). Die Kirche als
körperschaftlicher Ausdruck des
Sakralen selbst ist mit der Gesellschaft deckungsgleich. Die Zugehörigkeit zur Kirche wird mit der Zugehörigkeit zur Gesellschaft als politisch-sittlichem
System
gleichgesetzt.
3. Die Neo-Durkheimsche oder die
protestantische Auffassung von Gesellschaft und Religion: in ihr taucht
zum ersten Mal das Moment der individuellen Wahl von Religion auf.
Mit ihr aber auch die Idee, dass es
religiöse Überzeugungen geben
könne, die nicht den Anspruch erheben, in einer körperschaftlichen
Struktur für alle Menschen zu enden. Denominationen wie die Methodisten verstanden sich bewusst
als eine Kirche für Wenige, eben
nur für die, die die gleichen individuellen Erfahrungen teilten. Das
Ergebnis war das, was Bellah „civil
religion“ nannte. Die Trennung von
Kirche und Staat war ihr historisches Ergebnis.
4. Die Post/Nicht-Durkheimsche
oder expressivistische bzw. moderne Auffassung von Gesellschaft und
Religion: In den Durkheimschen
Auffassungen war noch das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Religion konstitutiv, und
Neuerscheinungen
das Individuum definierte sich als
einer Gesellschaft zugehörig, indem
es ihre religiösen Überzeugungen
teilte und diese an einem Gott, einer
Vorsehung festhielten. In der modernen expressivistischen Form von
Religion hingegen wird das Moment
der individuellen Wahl gestärkt, und
es schwindet das Moment der Konfessionalität. Der Einzelne erlebt
Spiritualität als Je-Eigenes – unabhängig von der Spiritualität anderer
– und er erlebt es ohne den Rahmen
des Sakralen, sei es die Kirche oder
der Staat.
Der größte Katalysator der expressivistische Auffassung von Religion
ist nach Taylor die heutige individuelle Konsumkultur, insbesondere
der Jugendkultur seit den 60er Jahren. Hier wurde die Ablehnung des
Sakralen, der großen Beziehungsrahmen wie Kirche und Staat, mit
dem Verweis auf das Recht der individuellen Wahl und Selbstbestimmung begründet. Der Begriff
des Privaten wurde als das Recht
definiert, eigene Wahlentscheidungen zu treffen, aber auch als die
Pflicht anderer, diese unbedingt zu
akzeptieren („Prinzip der Nichtverletzung“). Es bildeten sich neue horizontale Vorstellungen von Gemeinschaft, in der die Zugehörigkeit
zu einer Gruppe nicht mehr unmittelbar, sondern über komplexere
Beziehungen vermittelt ist. Beispiele
hierfür sind Sport- oder Rockfans:
die Fans halten nicht mehr an gemeinsam geteilten Überzeugungen
fest, sondern treffen ihre Wahl der
Zugehörigkeit aus ganz verschiedenen Beweggründen.
Was die heutige Spiritualität selbst
anbetrifft, sieht sich Taylor in seiner
These radikaler Individualisierung
weltweit bestätigt: konfessionelle
Religionen befinden sich auf dem
Rückzug, die Zahl derer, die persönlich an etwas Göttliches glauben,
steigt. James’ Werk, wieder den Bogen zu dessen individualistischer
Auffassung von Religion schlagend,
sieht Taylor als Wegbereiter dieser
modernen expressivistischen Formen von Religion.
Taylors neuester Band ist hochinteressant. Er erfasst das vorwiegend
soziologisch abgehandelte Thema
auch in seiner historischen Dimension und erschließt so neue gesellschaftsphilosophische
Horizonte
dieses Themas. Dennoch scheint,
trotz des unbestreitbaren Faktums,
dass die Bedeutung konfessioneller
Religion in der Moderne schwindet,
Taylors Verortung neuer Gemeinschaftlichkeit und Religion im Konsum etwas vorschnell zu sein. Sind
doch die horizontalen Bindungen
freiwilliger
Assoziationen
zu
schwach und in Staat und Gesellschaft zu unwirksam. Würde Taylor
diese Schwäche expressivistischer
Religiosität anerkennen, müsste er
zum Ergebnis kommen, dass das
Religiöse in der Gegenwart selbst
auf dem Rückzug ist. Aber das mag
man vielleicht für den Westen noch
behaupten können; für andere Regionen der Erde ist das keineswegs
schon entschieden.
Wolfgang Melchior
Peter Trawny
Die Zeit der Dreieinigkeit
Untersuchungen zur Trinität bei
Hegel und Schelling, Würzburg
2002 (Königshausen & Neumann),
229 S., 29,50 EUR.
Neuerscheinungen
In Zeiten der Unsicherheit liebt
man bekanntlich den Halt gebenden
„Blick zurück“. Der Autor des vorliegenden Buches, seiner überarbeiteten Habilitationsschrift, bekennt
denn auch im Vorwort freimütig,
dass die „Zeit der Dreieinigkeit“,
die dem Buch den Titel gab, vergangen ist: „Ich betrachte mein
Buch als eine Erinnerung an ein
Denken, das [noch] behaupten
konnte, ‚bei sich zu Hause zu sein’“
(8). Nun hat ein solch distanzierender Zugang zur Thematik und
Problematik der Hegelschen und
Schellingschen Philosophie, zumindest im deutschsprachigen Raum,
den Vorteil, nicht ‚aktualisieren’ zu
müssen und sich den Kämpfen der
Schulen zwischen und um Hegel
und Schelling entziehen zu können.
Sie kann sich insofern ‚vorurteilsfrei’ ihrem Untersuchungsgegenstand zuwenden. Dass dem Autor
dies letztlich nur teilweise gelungen,
zeigt das Ende seiner Untersuchung.
Trawny gelingt zur anstehenden
Thematik, der Trinität bei Hegel
und Schelling, ein überzeugender
Zugang und Einstieg: der ontologische Gottesbeweis, welcher aus dem
Begriff Gottes auf dessen Existenz
schließt. Denn dieser Beweis ist für
die beiden Philosophiekonzeptionen
zentral. Für Hegel ist Gott „eben
dies, dass sein Begriff und sein Seyn
ungetrennt und untrennbar sind.“ (34)
Er ist so die „absolute Realität“
(ebd.) Für Schelling, der gerade
durch die Kritik am „ontologischen
Argument“ seine eigene „positive
Philosophie“ bestimmt, ist es zumindest in historischer Hinsicht
„für die ganze neuere Philosophie
bestimmend geworden“ (SW I, 10,
14). Trotz dieser Differenz unternehmen es beide, Hegel wie Schelling, diesen ‚bewiesenen’ bzw. ‚sich
beweisenden’ Gott als den christlichen, d.h. den dreieinigen, Gott auszulegen.
Für Hegel, dem sich Trawny zuerst
zuwendet, drückt der ontologische
Gottesbeweis, wenn auch unvollkommen, das Prinzip der Philosophie aus: nämlich dass Vernunft ist.
Dies aber, dass Vernunft ist, müsse
trinitarisch gedacht werden, so wie
der Christengott dreieinig ist. Was
in der christlichen Religion in der
Dreieinigkeit vom Vater, dem Sohn
und dem Heiligen Geist vorgestellt
werde, sei in der Logik als der
„Sphäre der immanenten Trinität zu
denken“ (50; H.v.m.).
Auf der
Grundlage solcher „Analogie“ zwischen christlicher Religion und „reinem Denken“ widerspricht Trawny
nun zurecht den Ansichten, Hegel
habe seinen Begriff vom „Begriff“
gleichsam nachträglich auf das
christliche Gottesbild angewandt,
um ihn dadurch zu erläutern oder
aus ihm die Trinität Gottes gleichsam abzuleiten (50). Er konstatiert
demgegenüber ein anderes, engeres
Verhältnis zwischen Begriff und
Trinität bzw. zwischen dem Logischen und der Religion. Er spricht
vom „theologischen Motiv, das Hegels ‚Wissenschaft der Logik’ von
Anfang an begleitet“ (45). Dies
macht Trawny an Hegels „Lehre
vom Begriff“ bzw. dessen „drei
Momenten“, der Allgemeinheit, der
Besonderheit und der Einzelheit,
fest und zitiert: „Das Allgemeine ist
daher die freye Macht; es ist es selbst
und greift über sein Anderes über;
Neuerscheinungen
aber nicht als ein gewaltsames, sondern das vielmehr in demselben ruhig und bey sich selbst ist. Wie es die
freye Macht genannt worden, so
könnte es auch die freye Liebe, und
schrankenlose Seeligkeit genannt werden, denn es ist ein Verhalten seiner
zu dem Unterschiedenen nur zu sich
selbst, in demselben ist es zu sich
selbst zurückgekehrt.“ (45) Wenn
Trawny dazu anmerkt, dass dies „an
das Verhältnis von Gott Vater und
Sohn erinnert“ (ebd.), dann ist dies
zu wenig. Wer nur etwas mit der
Trinitätsdebatte vertraut ist, erkennt
in diesem Begriff vom Allgemeinen
unschwer eine der möglichen Lösungen des Trinitätsproblems: der
Vater als die freie Macht, die den
Sohn, das von ihm gezeugte Andere, „übergreift“ und durch den heiligen Geist, die Liebe, im Anderen
zugleich bei sich bleibt.
Darüber hinaus wäre es für eine Untersuchung der Trinität bei Hegel
zweifellos angebracht
gewesen,
wenn Trawny diesem Verhältnis
von Logik und Religion nicht nur
anhand Hegels Lehre vom Begriff,
sondern auch seiner Methode überhaupt nachgegangen wäre. Er zitiert
zwar Hegels Diktum: „Die Logik ist
insofern metaphysische Theologie,
welche die Evolution der Idee Gottes in dem Äther des reinen Gedanken betrachtet“ (49); aber er zieht
daraus nicht die Konsequenz, in
Hegels Dialektik selbst das christliche
Trinitätsmotiv zu erkennen. Denn
wenn Hegel in der Einleitung zu
seiner „Wissenschaft der Logik“ die
Methode der Wissenschaft so beschreibt, dass das Andere oder das
„Negative“, wie er hier sagt, nicht
das parmenideische „abstrakte
Nichts“ ist; es aber auch weder das
platonische πολλα oder das Mehr
oder Weniger ist noch das, was
neuplatonisch dem Einen ‚ausfließt’;
wenn es aber auch nicht – jüdisch –
dem Einen, der schlicht bei sich ist,
und auch nicht – spinozanisch –
dem All-Einen zukommt; sondern
wenn Hegel dieses Andere ganz bestimmt als die „bestimmte Negation“ bestimmt, in die das Eine oder
„Positive“ „fort-geht“, „über-geht“
oder „sich ent-zweit“; es in dieser
„Ent-Zweiung“ aber bei sich bleibt,
und im Resultate daher „wesentlich
das enthalten ist, woraus es resultiert“, – dann kann nicht nur diese
Art der Negation als Negation der
Negation, sondern auch Hegels Überzeugung, daß diese Methode die
„wahre“ sei, gar nicht anders verständlich gemacht werden, als dass
für ihn eben das christlich Trinitarische das an und für sich Wahre ist.
So verstanden aber hat Hegels Dialektik nicht nur irgendein „theologisches Motiv“, sondern ist in ihrem
Fundament christlich. Sie widerspricht damit sowohl heidnischem
wie jüdischem Denken des Absoluten. Trawny stellt diesbezüglich
zwar zurecht fest, dass für Hegel
„ein Gott jenseits der Logik ... kein
oder jedenfalls nicht der christliche
Gott ist“ (50); aber er verdeutlicht
nicht, dass der christliche Gott in
der Logik, er diese Logik selbst ist.
Diese, wie mir scheint, mangelnde
Durchdringung mag daran liegen,
dass Trawny ein anderes Interesse
verfolgt, dass nämlich in solchem
Denken sich für Hegel zugleich
auch heilsgeschichtlich „die Zeit erfüllt“ (Paulusbrief an die Galater, 4,
4). Denn die Zeit und die Geschichte für ihn eben dies, dass der dreieinige Gott nicht nur vorgestellt und
Neuerscheinungen
verehrt wird, sondern dass er im
menschlichen Geist zum Bewusstsein seiner selbst komme. Für Hegel
ist daher die Jetzt-Zeit, die Gegenwart, die „Zeit der Dreieinigkeit“.
Der „mittlere und spätere“ Schelling
hingegen verhält sich kritisch gegenüber dem ontologischen Gottesbeweis. Trawny stellt den Einwand, den Schelling in „Zur Geschichte der neueren Philosophie“
formuliert hat, überzeugend dar: ein
Gott, der existieren muss, ist kein
freier Gott; denn er kann nicht nicht
existieren. Für Schelling ist Gott
daher nicht einfach das Sein, sondern der „Herr des Seyns“. Er ist
nicht nur das notwendig existierende, sondern „das frei wollende Wesen“ (133). Trawny folgert daraus,
dass sich für Schelling das Göttliche
nicht, wie bei Hegel, in der Struktur
des Logischen, sondern im Faktischen, in der Geschichte als dem
Handeln Gottes offenbart.
Unklar bleibt allerdings, worein nun
Schelling
das
ChristlichTrinitarische solcher Geschichte
setzt. Besteht das Christliche, wie er
in den „Weltaltern“ schreibt, in dem
geschichtlichen Faktum, dass ‚wir’
in ‚unserem’ Kulturkreis „von
Kindheit auf“ christlich denken und
„seine Lehren für das ganze Leben
eine fast unabweisbare Gegenwärtigkeit erhalten“ (136)? Oder gilt,
dass es das Christentum schon „von
Ewigkeit her“ gegeben habe, „noch
ehe eine Welt da war“ (137), so dass
eine gleichsam vorgeschichtliche
Trinität anzunehmen wäre? Wie aber verträgt sich dieser Gedanke mit
der Geschichtlichkeit göttlicher Offenbarung? Oder aber ist es so, dass
Geschichte überhaupt nur christ-
lich, d.h. trinitarisch, gedacht werden
könne, weil „jede Geschichte, die
dies wirklich ist, ... drei große Unterscheidungen (hat), nämlich Anfang, Mitte und Ende, oder: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (140 f.)? Und will Schelling
damit sagen, dass die Geschichte
zwar objektiv nur faktisch ist, dass
sie aber als begriffene, als System,
allemal nur christlich sein könne?
Trawny lässt dies im Dunkeln. Er
macht vielmehr mit Hinweis auf W.
Schulz deutlich, dass dieses Ungelöste ein Strukturelement der Schellingschen Spätphilosophie selbst sei.
Denn während Hegels Philosophieren sich als System erfüllt, habe
Schelling solche Einsichtigkeit verneint „und die ‚Gründung’ des Ganzen in der ‚grundlosen Freiheit’
Gottes anerkannt.“ (189) Von Hegel
her gebe es deshalb keine Möglichkeit, sinnvoll nach der Zukunft zu
fragen; denn für ihn ist die Gottesherrschaft nichts ausstehendes,
sondern wirklich. Für Schelling jedoch, dem das Zukünftige Strukturmoment von Geschichte ist, sei
die Geschichte offen. Seine „Philosophie der Offenbarung“ verherrlicht nicht die Gegenwart, sondern
begreift sie als „zerrissene Welt“
und ihr Heil als noch ausstehend.
Sie sei „grundsätzlich eine eschatologische, also auf Zukunft bezogene Philosophie. Zeit und Geschichte werden
grundlegend von der Zukunft her verstanden.“ (181) Darum aber sei für
Schelling auch nur dasjenige Christentum, das die Erfüllung der Zeit
in der Zukunft erblickt, die „wahre
Religion“ (181). Während also Hegel die Geschichte von Jesus her
denkt, durch den die göttliche Ver-
Neuerscheinungen
nunft wirklich geworden sei, denkt
Schelling sie vom Parakleten, dem
Künder des kommenden Zeitalters,
her. Dieses Zukunftsbezugs wegen
aber sei, läßt Trawny durchblicken,
das Schellingsche Denken der Gegenwart adäquater.
Am Ende seines Buches verlässt der
Autor seine historische Untersuchung und geht so weit, dem gegenwärtigen Denken die jesuanische
Botschaft vom kommenden Gottesreich – ganz unabhängig von aller
Trinitätsdiskussion – als zukünftiges
Denken anzuempfehlen. Wenn, so
Trawny, die gegenwärtige „Pluralisierung und Globalisierung der
Wohn- und Denkräume ... die
Kennzeichen einer radikal gottverlassenen und d.h. nihilistischen Welt
sind, dann ist jedes Nachdenken
über Gott eine bloß sentimentaler
Beschäftigung“ (210). Wenn es aber
eine Heilung in der Zeit gebe, dann
komme sie aus der Zukunft; ein einzigartiges Zukunftswissen aber
enthalte die Predigt Jesu; denn diesem Wissen habe sich „noch keine
philosophische Theorie ... als überlegen erwiesen“ (211).
Dieser schließliche Distanzverlust
zum Gegenstand bzw. das Schwanken zwischen historischer Untersuchung und aktualisierender Anempfehlung macht Trawnys Buch zweideutig. In der ersten Hinsicht bleibt
manches, wie ich zumindest anhand
Hegels Logik angedeutet habe, oberflächlich und vieles unausgeführt. Hinsichtlich des letzteren jedoch, Trawnys Empfehlung der
„Frohen Botschaft“ als Heilmittel
der Gegenwart, bräuchte es eingestandenermaßen dieses Werks über
die Trinität bei Hegel und Schelling
gar nicht.
Alexander von Pechmann
Dieter Wolf
Der dialektische Widerspruch im
Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen
Werttheorie, Hamburg 2002 (VSAVerlag), 474 S., 24.80 EUR.
Wie jeder erfährt und weiß, begleiten den Kapitalismus auf dem Weg
zu seiner aktuellen Globalisierung
die Arbeitslosigkeit, die Krisen der
sozialen Sicherungssysteme – vor allem des Rentensystems und der
Krankenversicherung –, die Zunahme der Ungleichheit zwischen
den Reichen und den Armen (im
nationalen und internationalen
Maßstab), weiter die Naturzerstörungen und die militärischen Expansionen. Hinzu kommen die Brutalisierung des Lebens und die allgemeine Unsicherheit der Existenz,
die psychische Verelendung und die
Bildungsmisere. Außerdem erfährt
jeder, dass das ökonomische
Wachstum des Kapitals – für das
die staatliche Politik den Rahmen zu
schaffen sucht – ein verselbständigter, das heißt entfremdeter Prozess
ist, der mit sachzwanghafter Logik,
also naturwüchsig, wenn auch nicht
natürlich erfolgt.
Wenn man fragt, was die Ursachen
für die erwähnten Erscheinungen
sind respektive welche Theorie die
Erscheinungen erklärt oder wenigstens einen Beitrag zu ihrer Erklärung leistet, gewinnt die alte Theorie
von Karl Marx wieder einige Aufmerksamkeit. Jedenfalls lässt sie sich
nach dem Ende der Ost-WestKonfrontation unbefangener studieren. Aber kompetente Lehrer sind
Neuerscheinungen
kaum vorhanden, nachdem Marx
auch an der Universität dem
Freund-Feind-Schema zum Opfer
gefallen war und man es nicht für
erforderlich hielt, ihn wie Platon,
Aristoteles, Kant oder Hegel gründlich zu studieren. Ein berühmter
Philosoph, der über Marx öffentlich
totalalisierende Urteile gefällt hatte,
fragte mich vor der „Wende“ allen
Ernstes, ob man von Marx’ Hauptwerk, dem „Kapital“, mehr als das
erste Kapitel gelesen haben sollte.
Die ersten drei Kapitel sollten es
schon sein... Falls man sie liest und
studiert, begreift man, dass die Verselbständung des kapitalistischen
Wachstums und seine Krisen in
dem dialektischen Widerspruch zwischen dem Gebrauchswert und dem
Wert wurzeln. Diesen grundlegenden Teil des „Kapital“ behandelt
das hier angezeigte Buch detailliert,
ausführlich und problembewusst.
Die entsprechenden Kapitel haben
die Überschrift: Die Wertform als
Lösungsbewegung
des
Widerspruchs zwischen dem Gebrauchswert und dem Wert; Der Warenfetisch und der Widerspruch zwischen
dem Gebrauchswert und dem Wert;
Der doppelseitig-polarische Gegensatz von Ware und Geld als Bewegungsform des Widerspruchs zwischen dem Gebrauchswert und dem
Wert. Ein voran gestelltes Kapitel
behandelt die gesellschaftliche Bedeutung der abstrakt-menschlichen
Arbeit in nicht-kapitalistischen und
in kapitalistischen Gemeinwesen.
Und ein Schlusskapitel thematisiert
den Begriff des Widerspruchs im
„Kapital“ sowie in der „Kritik des
Hegelschen Staatsrechts“, verbunden mit einer Kritik an H. F. Fulda
und P. Furth. Auch in den anderen
Kapiteln schiebt der Autor erhellende Auseinandersetzungen mit
bestimmten Theoretikern ein, nämlich mit Colletti, Henrich, Theunissen, Becker, Göhler Backhaus, Reichelt und Lange. Wie der Autor
zeigt, erliegen viele Theoretiker einem „Anwendungsschematismus“,
indem sie den Begriff „Widerspruch“ von außen an Marx’ Darstellung heran tragen, nachdem sie
ihn zuvor von Hegel oder anderen
aufgenommen haben.
Dass der Autor dergleichen vermeidet und insistierend auf Marx’ Darstellungen eingeht, verdient große
Anerkennung. So kann man mit
seiner Hilfe auch Marx’ schwierige
Wertformanalyse begreifen und
hiermit die Versachlichung der
menschlichen Verhältnisse (die
Verkehrung von Mensch und Sache,
Subjekt und Objekt). Sie ist mit der
Warenproduktion notwendig verbunden; denn da die Menschen als
Warenproduzenten ihre gebrauchswertproduzierende konkrete nützliche Arbeit privat bzw. abgegrenzt
voneinander verausgaben (also nicht
von vornherein in planvoll koordinierter Produktion vergesellschaftet
sind), hat nur die in Zeit gemessene
abstrakte wertproduzierende Arbeit
gesellschaftlichen Charakter, und
diese erscheint in dem gesellschaftlichen Verhältnis des Austauschs
der Gebrauchswerte, dieser Sachen.
Daher also die sachzwanghafte verselbständigte Praxis der Warengesellschaft, speziell der kapitalistischen Warengesellschaft.
Elmar Treptow
Neuerscheinungen
Crispin Wright
Wahrheit und Objektivität
übers. aus dem Englischen von W.
K. Köck, Frankfurt/Main 2001
(Suhrkamp), 305 S., 28,80 EUR.
Crispin Wright ist der Verfasser
zwei wichtiger Werken zu Fragen
der Philosophie der Mathematik bei
Frege und Wittgenstein sowie zahlreicher anderer Beiträge zur
Sprachphilosophie und Wahrheitstheorie. Das Buch Wahrheit und Objektivität, im Original schon vor acht
Jahren erschienen, ist charakteristisch für die Reformulierung, die
traditionelle philosophische Fragen
in der analytischen Philosophie erfahren und für das weite Spektrum
möglicher Antworten und Argumentationsmuster, das durch diese
Reformulierung eröffnet wird.
Wright untersucht das Verhältnis
von Wahrheit und Objektivität unter den Voraussetzungen und mit
den Mitteln der modernen Realismus-Antirealismus-Debatte.
Der
Realismusbegriff dieser Debatte ist
nicht direkt erkenntnistheoretisch
(er geht also nicht der Frage nach,
inwiefern der Gegenstand der Erkenntnis unabhängig von der Tätigkeit des Erkennens ist), und ist auch
nicht eine Form des metaphysischen
Realismus (ob wir berechtigt sind,
eine vom epistemischen Subjekt unabhängige Realität anzunehmen oder ob wir zur Anerkennung der
Existenz von Universalien oder abstrakter Objekte verpflichtet sind).
Vielmehr handelt es sich um den
semantischen Realismusbegriff, der die
Relation von sprachlichen Bedeutungen und den Bedingungen der
Behauptung von Sätzen (assertibili-
ty) thematisiert. Eine Position ist in
diesem Sinne bezüglich einer Art
von Objekten realistisch, wenn sie
die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen der Aussagen über diese
Objekte als notwendige Bedingung
der Behauptung dieser Aussagen
versteht, und in dieser Weise sich
darauf festlegt, daß die Kenntnis der
Bedeutung dieser Aussagen die
Kenntnis deren Wahrheitsbedingungen ermöglicht.
Im Gegensatz dazu ist eine Position, die sich damit begnügt, daß die
Kenntnis der Bedeutung die
Kenntnis der Verifikationsbedingungen oder der Verwendungsumstände der Aussagen über die Objekte einer Art ist, antirealistisch.
Die Behauptung einer solchen Aussage ist nicht eine wahre oder eine
falsche Behauptung, sondern kann
als „angemessen“ oder als „korrekt“
bezeichnet werden.
Auf der Grundlage dieser Unterscheidung wird dafür argumentiert
(Dummett), daß sich erkenntnistheoretische und metaphysische Aspekte der traditionellen RealismusDebatte in Fragen über die Bedingungen der Behauptung und somit
des Verstehens der entsprechenden
erkenntnistheoretischen und metaphysischen Aussagen umformulieren
lassen.
Dieser
Realismus/Antirealismusbegriff ist Voraussetzung für das Verständnis der
Fragestellung von Wahrheit und Objektivität.
Die Frage, die sich Wright nun
stellt, ist, welche („realistischen“)
Eigenschaften überhaupt durch die
Wahrheit von Aussagen gefordert
werden. Am Beispiel von Urteilen
über das Lustige („funny“), die in
gewissem Sinne als wenig „objektiv“
Neuerscheinungen
empfunden werden, geht es ihm
um die Charakterisierung solcher
Behauptungen, die zwar im Alltag
als wahr oder falsch bezeichnet
werden können, die jedoch nicht in
dem Sinne verstanden werden, daß
sie sich auf „wirkliche“ oder „objektive“ Qualitäten der Dinge beziehen
und diese abbilden.
Wright sieht die Aufgabe darin, einen Wahrheitsbegriff zu entwickeln,
der die Wahrheitsfähigkeit – und
damit die Objektivität – von Aussagen wie z.B: „b ist lustig“ erklärt,
ohne sich auf die Existenz von objektiven Eigenschaften oder Sachverhalten, denen diese Sätze „korrespondieren“, festzulegen, und ohne die Bedeutung solcher Sätze auf
die Bedeutung von Sätzen über empirisch beobachtbare Sachverhalte
zu reduzieren. Diesen Wahrheitsbegriff entwickelt Wright in seiner
„Superassertibitätstheorie
der
Wahrheit“ (oder „Minimalismus“).
Eine Aussage ist „superassertibel“,
wenn sie berechtigt ist und bei jeder
Änderung des Informationsstandes
berechtigt bleibt. Ist aber „Superassertibilität“ dasselbe wie Wahrheit?
Wright geht dieser Frage auf mehreren Seiten nach. Er zeigt unter anderem, daß Superassertibität jedenfalls die minimalen Bedingungen an
Wahrheitsprädikate, die durch das
Tarski-Schema („p“ ist wahr genau
dann, wenn p) gestellt werden, erfüllt.
Eine der interessanten Folgen des
Minimalismus, die Wright in Kauf
nimmt, ist die These von der Pluralität von Wahrheitsprädikaten, die
damit begründet wird, daß die Berechtigung von Behauptungen in
verschiedenen Diskursen – und
damit auch die Superassertibilität
von Aussagen – unterschiedlichen
Kriterien unterliegt. Dies schafft ein
Problem, das in der neuesten Debatte um die Thesen der Wahrheit
und Objektivität aufgeworfen wurde,
nämlich bei Schlußfolgerungen mit
gemischten Prämissen, z.B.: „Nasse
Katzen sehen lustig aus; diese Katze
ist naß; diese Katze sieht lustig aus“.
Da in einer Schlußfolgerung die
Wahrheit von den Prämissen auf die
Konklusion übertragen werden soll,
und wenn tatsächlich verschiedene
Wahrheitsprädikate für die Prämissen angenommen werden, scheint
diese Auffassung obsolet zu sein.
Der Gang der Argumentation in
den Einzelfragen ist äußerst komplex und um ihm zu folgen, ist es
unvermeidlich, die Originalausgabe
heranzuziehen, trotz oder vielleicht
gerade wegen der Bemühung des
Übersetzers, an manchen Stellen
den Text wortgetreu wiederzugeben.
Georgios Karageorgoudis
Wolf Gorch Zachriat
Die Ambivalenz des Fortschritts.
Friedrich Nietzsches Kulturkritik,
Berlin 2001 (Akademie-Verlag), 230
S., 49,80 EUR.
Die kritische Diskussion des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens war
zweifellos ein zentrales Thema der
Philosophie des 20. Jahrhunderts.
Die Hoffnungen, die insbesondere
das Zeitalter der Aufklärung in den
Fortschritt der Vernunft und der
Wissenschaften gesetzt hatte, wurden im Zuge dieser Diskussion zumeist verabschiedet. So diagnosti-
Neuerscheinungen
zieren Horkheimer und Adorno in
der Dialektik der Aufklärung, daß der
Fortschritt der Vernunft nicht in eine bessere und gerechtere Welt,
sondern in die Barbarei des faschistischen Wütens und in die „verwaltete Welt“ führt. Auch postmoderne
Denker wie Jean-François Lyotard
sprechen von der Liquidierung des
Projekts der Moderne, die für ihn
durch den Namen „Auschwitz“
symbolisiert wird.
Dementsprechend konzentriert sich
die moderne und postmoderne Literatur über Nietzsche, in der die
Auseinandersetzung des unzeitgemäßen Denkers mit dem neuzeitlichen Fortschrittsdenken untersucht
wurde, vor allem auf Nietzsches
Fortschrittskritik. Die solide und
differenziert verfahrende Dissertation von Wolf Gorch Zachriat korrigiert diese Einseitigkeit, indem sie
auch Nietzsches positive Bezüge
zum Fortschrittsgedanken treffend
herausarbeitet. Nietzsches Begriff
des Fortschritts ist ambivalent. So
weist Nietzsche einerseits die optimistische Hoffnung zurück, daß die
conditio humana durch Wissenschaft und Technik grundsätzlich
verbessert und die leidvollen Aspekte des Lebens überwunden werden
können. Andererseits zeigt Zachriat,
daß Nietzsche durchaus positive
Fortschrittsvorstellungen hat, deren
Verwirklichung er anstrebt.
Bereits in der Geburt der Tragödie
hofft er auf die Überwindung des
sokratischen Optimismus durch eine von Schopenhauer und Wagner
inspirierte
künstlerisch-tragische
Kultur, die das Leben trotz der tragischen Erkenntnis, daß das Leiden
prinzipiell nicht abschaffbar ist, bejahen kann. Die Hoffnung auf den
Fortschritt zu einem höheren „Grad
der Kultur“ bleibt auch nach dem
Tragödienbuch ein zentrales Moment von Nietzsches Denken. Eine
Steigerung der Kultur kann für ihn
nur von genialen Einzelnen bewirkt
werden, deren Ausbildungs- und
Entfaltungsmöglichkeiten folglich
gezielt gefördert werden müssen.
Der angestrebte kulturelle Fortschritt zielt letztlich auf den Aufbau
einer modernen „geistig-leiblichen
Aristokratie“, deren Architekten die
freien Geister sein sollen.
Zachriat kann auch zeigen, daß
Nietzsche nicht dafür plädiert, daß
sich der Einzelne mit dem Nihilismus abfinden soll, sondern seine
kritische Überwindung intendiert.
Nietzsche strebt tatsächlich einen
Fortschritt aus dem Nihilismus an,
den er, anders als etwa Gianni Vattimo meint, sowohl für möglich als
auch für wünschenswert erachtet.
Zachriat beginnt seine Dissertation
mit einem instruktiven Kapitel, in
dem er den Gehalt und die Geschichte des Fortschrittsbegriffs
darstellt. Es folgen ein Kapitel über
die Geburt der Tragödie, eines über die
Unzeitgemäßen Betrachtungen und eines
über die mittleren bzw. freigeistigen
Schriften bis 1881 (Erscheinungsjahr der Morgenröte). Hier bricht
Zachriats Untersuchung von Nietzsches Auseinandersetzung mit dem
Fortschrittsgedanken ab. Es folgt
lediglich eine stilistisch etwas verunglückte Zusammenfassung und ein
sehr kurz geratener Ausblick auf das
Spätwerk. Zwar ist eine derartige
Eingrenzung der Fragestellung
grundsätzlich nicht zu bemängeln.
Allerdings geht diese weder aus dem
Titel noch aus dem Werbetext hervor, der sogar suggeriert, daß in der
Neuerscheinungen
Arbeit auch das Spätwerk untersucht wird. Die von Zachriat kurz
thematisierten Probleme des Spätwerkes, etwa ob die anti-progressive
Lehre von der ewigen Wiederkehr
des Gleichen mit Nietzsches progressiven „Lehren“ einer Umwertung aller Werte und eines Überganges zum Übermenschen vereinbar sind, würden eine weitere
Untersuchung rechtfertigen, die ein
Desiderat für künftige Forschungen
bleibt.
Manuel Knoll
Stefan Zenklusen
Adornos Nichtidentisches und
Derridas différance
Berlin 2002 (Wissenschaftlicher
Verlag), Pb., 131 S., 16.- EUR.
Ein Jahr nach der Vergabe des Theodor-W.-Adorno-Preises an Jacques
Derrida erscheint im Wissenschaftlichen Verlag Berlin eine Parallelisierung Theodor W. Adornos mit
Jacques Derrida. Verfasser ist der in
Zürich domizilierte freie Autor, Philosoph und Romanist Stefan
Zenklusen. Seine Sympathie macht
Zenklusen im Untertitel explizit, in
dem er für eine „Resurrektion negativer Dialektik“ plädiert.
Zenklusen schält am Leitfaden des
Themenkomplexes Identität und
Differenz anhand der NichtBegriffe „Nichtidentisches“ und
„différance“ heraus, was beide
Denker eint und trennt. Auf die
passagenweise vielleicht etwas dichte und überladene Exposition des
Differenzdenkens beider folgt der
eigentliche Gegenüberstellungsteil.
Zenklusen wundert sich über fehlende Bezüge zu Adorno im Werk
Derridas (wo der Schriftbegriff omnipräsent ist), angesichts der Rolle,
die bei jenem nicht nur das Unsagbar-Nichtidentische, sondern auch
(vor allem in der Ästhetik) der Spielund Schriftbegriff spielt. Metaphysik
„im Augenblick ihres Sturzes“ erheischt bei Adorno bekanntlich eine
negative Dialektik, die das „Dasein
ihrer Elemente“ zu einer Konfiguration bringen würde, in der die Elemente „zur Schrift zusammentreten“. Während Adornos Nichtidentisches als utopisches Regulativ
sozioökonomischer Asymmetrien
und ihrer Folgen für Mensch und
Natur fungiert, verlegt es Derrida in
die unauslotbare, differenzermöglichende Bewegung der „différance“
selbst. Die Nähe der „différance“
zum „Seyn“ des späten Heidegger
wurde, so Zenklusen, in der Literatur bisher zu wenig herausgestrichen. Aus dieser Verwandtschaft
erklärt sich Derridas viszerale Ablehnung jedes Essentialismus. Adornos Rede vom „verkehrten Wesen“ müsste so aus Derridas Sicht
zwangsläufig einen dekadenztheoretischen Rückfall in einen Humanismus bedeuten. Die Entsprechung
zu Adornos Bilderverbot ist Derridas Definitions- und Begriffsverweigerung, die allerdings ebenfalls
Heidegger’sche Züge trägt: Die
„différance“ schreibt er manchmal,
wie der späte Heidegger das „Sein“,
kreuzweise durchgestrichen.
Wo bei Adorno Philosophie und
Kunst in deren Wahrheitsgehalt
konvergieren, scheint Derridas
„Wahrheit“ in der Unmöglichkeit
jedes fixierbaren Gehalts überhaupt
Neuerscheinungen
zu bestehen. Das wäre für Adorno,
der Dialektik gegen sich selbst wendet, ohne sie aber aufzulösen, Hypostasis des Aporetischen.
Zenklusen weist die These von der
Dekonstruktion Derridas als einer
Überwindung oder Radikalisierung
negativer Dialektik zurück: „Der
Verantwortung
historischer
Kontextualisierung entzieht sich
Derrida durch den Hinweis, das
Denken von ‚Geschichte’ werde
durch die différance überhaupt erst
ermöglicht.“
Derridas
Fundamentalsemiologie erweise sich
methodisch als eigenartiger, dem
Rationalismus
abholder
Rationalismus,
der
den
Strukturalismus zu verwinden vorgibt, ihm aber im binären Schematismus und der Zeichenverhaftetheit
unfreiwillig treu bleibt. Die Probleme und Gefahren, die auftauchen,
wenn durch „entwirklichende Spiegelfechterei“ alles in Frage gestellt
wird, die Begriffe zu Spielmarken
werden, die in inhaltsarmer Opposition zueinander gebracht werden
und die Differenz zum Selbstzweck
wird, hat Adorno erkannt. Deshalb
fällt Derrida, so Zenklusen, in gewisser Weise
Im
anschließenden
hinter Adorno zurück.
ethischpolitischen Teil kritisiert Zenklusen
Derridas Haltung zu Heideggers
kurzem Engagement als Rektor der
Freiburger Universität als „Gänsefüsschen-Dekonstruktion mit Samthandschuhen“. Origineller sind sicherlich Zenklusens gegenwartsdiagnostische Miszellen, die den Band
beenden. Sie sind teilweise von einem etwas düsteren Ton geprägt,
verraten aber ein feines Sensorium
für die derzeitige politische, sozioökonomische und kulturelle Entwicklung. Seine eigenen Analysen
verwebt Zenklusen mit Adornos
Antizipation des „drohenden liberal-libertiziden Totalitarismus“, der
etwa von Jürgen Habermas wegen
der weitgehenden Unantastbarkeit
des „Systems“ kaum mehr problematisiert werden kann: „Die Versuche, negative Dialektik als Muster
intellektueller Selbstverständigung
einer vergangenen Epoche oder als
ästhetisches Lebensverbringungsreservat zu verharmlosen, sind unhaltbar.“
Daniel Huber
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